Kino - Volker Schlöndorff
Kino - Volker Schlöndorff
Alexander Gonschior
Quicklebendig
Volker Schlöndorff ist durch die deutschen Kinos gereist, um seinen Dokumentarfilm "Der Waldmacher" vorzustellen. Und er erlebte eine lebendige Kinoszene, die Corona erstaunlich gut überstanden hat.
11.08.2022

Wie schön es doch ist, ­einen Film im Kino zu erleben! Ich wusste das gar nicht mehr. Nicht nur die Bilder wirken stärker, auch die Emotionen sind viel intensiver, wenn man sie mit anderen teilt", begeistert sich eine Besucherin.

"Ausverkauft" – dieses Schild solle ich foto­grafieren, sagte mir in Bochum ein Kinobetreiber, "das hat es seit Beginn der Pandemie nicht gegeben und wird es womöglich die nächsten zehn Jahre nicht mehr geben." In seiner Bitte und der Begründung zeigt sich die ganze Spannbreite der Stimmung bei den Kinobetreibern in Deutschland: zum Jammern zu gut, zum Freuen zu schwach.

Was das Überleben der Kinos bei uns betrifft: Ich selbst bin nach einer ­Rundreise durch 44 große und kleine Häuser in 39 ­Städten optimistischer als zuvor. Eine neue Generation von Betreibern wird ihre Alters­genossen mit ihrer Lust am Film anstecken. Und das Bedürfnis nach unmittelbarem ­Leben und Gemeinschaft wird stärker sein als der Reiz der virtuellen Erlebnisse.

Volker Schlöndorff

Volker Schlöndorff, geboren 1939, begann Ende der 50er-Jahre als Regieassistent von Louis Malle. Für seinen Film "Die Blechtrommel" erhielt er die Goldene Palme und als erster Deutscher einen Oscar. Oft dienten Romane als Vorlage, zu seinen bekanntesten Filmen zählen "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", "Die Fälschung", "Tod eines Handlungsreisenden", "Homo Faber" und "Rückkehr nach Montauk". 1992 bis 1997 leitete er die Filmstudios Babelsberg. Volker Schlöndorf hat eine Tochter und lebt in Potsdam.

Ausverkauft waren tatsächlich zum ersten Mal seit zwei ­Jahren wieder alle Kinos, die ich mit dem Dokumentarfilm "Der ­Waldmacher" seit dem 5. April besucht habe. Ich habe ­diese Tour gemacht und allabendlich mit dem ­Publikum diskutiert, weil es mir wichtig war, dass mein anderes, hoffnungsvolleres Bild von Afrika auch gesehen wird. Der Verleih meinte, keine noch so aufwendige Werbekampagne könnte eine vergleichbare Wirkung erzielen.

Wichtiger als für den Film war die Reise aber für die ­Kinos: Hoffnung auf die Rückkehr der Zuschauer. Die Älteren von ihnen ­haben sich auf ein Leben zu Hause eingestellt. Sie ­haben gelernt, sich im Internet zurechtzufinden und schauen ­Filme per Streaming. Sie haben Angst vor Viren, auch Kriegs­angst; ­verständlich bei Älteren, weniger ausgeprägt bei Jüngeren.

Bei denen scheint Netflix übrigens nicht die große Konkurrenz zu sein. Es heißt, je mehr Filme sie sehen, desto begeistertere Kenner werden sie, desto öfter gehen sie ins Kino. Sie werden neugierig auf andere Filme. Immer voll sind die wöchentlichen Previews, und es muss die Originalfassung sein. Überhaupt ist das eine positive Folge des Internets: Fremde Sprachen und Untertitel werden allgemein ­akzeptiert, deutsche Synchronisationen gemieden. "Drive My Car" aus Japan, drei Stunden, OmU, ohne Action, ein Film, der ­Literatur von Anton Tschechow und dem japanischen Autor Haruki Murakami verarbeitet, war auch in Deutschland ein Arthouse-Hit.

Zur Filmvorführung in der Schauburg in Bremen

Erfreulich ist, dass gerade die ­jungen Kinobetreiber optimis­tisch in die Zukunft sehen. Sie glauben, bis Jahresende wieder auf Vor-Corona-Niveau zu sein. Wenn ältere Zuschauer nicht wiederkommen, ­würden jüngere sie ersetzen. Die jungen Kinobetreiber sind auf deren Wellenlänge und ­wissen, wie sie zu erreichen sind, nämlich per Instagram. Viele Programmkinos wollen aber auch ihr früheres Stammpublikum, die Best Ager, nicht verlieren und spielen französische Komödien oder andere "Wellness"-Filme. Ein schwieriger Spagat zwischen Generationen, die einander oft nicht am gleichen Ort be­gegnen wollen.

Am lebhaftesten war das Publikum da, wo es sich sein Kino selbst gestaltet, nämlich in "eGs", eingetragenen Genossenschaften. In Würzburg kapitulierten die Innenstadtkinos der Reihe nach, als gleich zwei Multiplexe eröffneten. Daraufhin haben Filmfreunde sich zusammengeschlossen und betreiben ­ihre Spielstätten nun selbst: viel Arbeit – und große Befriedigung. ­Verständlich, dass sie die Pandemiekrise besser gemeistert haben als andere. Untergekommen sind sie mit dem "Central im Bürgerbräu" in den Gewölben einer ehemaligen Brauerei, wo sie auch Afrika­wochen und ein Flamencofestival mit Live­einlagen gestalten: Kastagnetten klingen in den Gewölben von Bierkellern gut. Die Genossenschaften könnten ein Zukunftsmodell sein.

Die Pandemiehilfen wurden fast überall gut genutzt

Engagement und ein gutes Konzept funktionieren auch jenseits der Metropolen. In Rendsburg etwa, 29 000 Einwohner, kamen in die "Schauburg" an einem Abend fast doppelt so viele Zuschauer wie in Hamburg. Auch Ältere können jung bleiben: Ein Herr in Tweedjacke und Schlips sowie eine Dame in schickem Kleid, das Besitzerehepaar, standen am Eingang und begrüßten die Zuschauer persönlich – am Vorabend der Hochzeit ihrer Tochter! Sonntags bieten sie, wie viele ­andere Kinos, einen beliebten Film-Brunch. Die zwei kleinen Säle, die Bar und der Eingang sind dank Zuschuss vom Bundeskulturminis­terium picobello renoviert.

Die Pandemiehilfen wurden fast überall gut genutzt und haben mit den ­Hilfsprogrammen zum Ausgleich des Besucherverlustes ­allen Programmkinos erlaubt, zu überleben. Die Stunde der Wahrheit kommt in diesem Herbst, wenn die Hilfen wegfallen: Werden die Einnahmen genügen oder kommt die Pleitewelle doch noch? "Das hängt von den Filmen ab", sagt Matthias Elwardt, Betreiber der angesehenen Zeise-Kinos in Hamburg. In diesem Frühjahr seien die Oscar-Filme ausgefallen, weil fast alle Preisträger schon bei Streamingdiensten verpflichtet waren. Das kann die Flut der kleinen deutschen Filme nicht wettmachen.

Da sind sich alle einig: Es gibt zu viele Filme. Statt 13 pro Woche würden drei bis vier ge­nügen. Die Zuschauer verlieren den Überblick, kein Film kann sich wirklich ­profilieren. Und Kinos ­müssen Filme oft nur deshalb ­spielen, weil sie gefördert wurden, auch wenn das Haus leer bleibt. Darauf besteht die Filmförder­anstalt und droht mit Regressansprüchen. Viele Betreiber machen das Fördersystem für ihre Misere verantwortlich.

Nur wenige Städte unterstützen die Kinos

Es gibt noch andere Klagen. Nur wenige Städte unterstützen die Kinos. In Kiel kann der Betreiber eines Jahrzehnte alten Kinos nach 22 Uhr nicht mehr spielen, weil Mieter im gleichen Haus erfolgreich geklagt haben. In Erlangen darf ein Freilichttheater nicht ausgebaut werden: Vergnügungsstätten ­dürfen nicht in Wohnvierteln angesiedelt werden. Dabei spielen sie mit Kopfhörern, und die Vergnügungssteuer für Kinos wurde vor Jahrzehnten abgeschafft. Theater, Musiksäle, Kleinkunstbühnen und andere erhalten Subventionen, Kinos nicht.

Da nützt der "Schauburg" in der Dresdner Neustadt auch ihre lange Geschichte nichts. Ein Arbeiterverein hat sie 1889 als Bildungsstätte mit Kinovorführung gegründet – sie zählt aber nicht zur "Kultur", auch nicht, wenn sie Klassiker spielt. Ausgerechnet die haben sich als Publikumsmagneten entpuppt. Nicht nur Stummfilme, die Vor­behaltsfilme der Nazis (mit Einführung und Diskussion) oder deutsche Filme der 60er – auch "Der Pate" gehört inzwischen zum Filmerbe.

Durch ihr ­Stammpublikum erreichte die "Schauburg" in Dresden gleich nach den ­Lockerungen im Februar 78 Prozent der 2019er Zahlen. Im März brach die Bilanz auf 50 Prozent ein. Das Überleben steht infrage, denn, so der Betreiber: "Jetzt sparen die Leute schon wieder wegen der Preiserhöhungen und weichen aus zum Streaming oder zu Amazon, wo aber die Kernkompetenz eines guten ­Programmmachers fehlt, der sein Angebot auf die Stamm­kunden, den Stadtteil und die Verfügbarkeit der Filme zuschneidet, außerdem Einführungen, Gespräche und Präsenz von Künstlern bietet."

Vom Feuer der frühen Jahre ist noch viel Glut übrig

Mit hauptsächlich jungem Publikum hat in Wuppertal das "Cinema" schon 80 Prozent der früheren Auslastung erreicht. Ebenso das "Schloßtheater" in Münster, wo der Pächter einem jungen Team vollkommen freie Hand lässt. Sein gemischtes Programm steckt voller Überraschungen und ist keiner Altersgruppe zuzuordnen. Zu einer Dokumentation über ­Patricia Highsmith lief gleich eine ganze Reihe ihrer Krimis, alle in O-Fassung versteht sich. Werbetexte und Ankündigungen ­schreiben die Kinomacher selbst, in der Sprache ihrer Generation auf Instagram.

Schon vor 30 Jahren, als Studenten, ­hatten Bielefelder Kinobetreiber die "Kamera" übernommen. Vom Feuer der frühen Jahre ist noch so viel Glut übrig, dass sie sogar ein ­eigenes, sehr lebendiges Filmmuseum eröffnet ­haben, zu Ehren von zwei Größen der Stadt: von Stummfilmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau und Joseph Massolle, dem Erfinder des Tonfilms. MuMa heißt das Murnau-­Massolle-Forum dann auch. "Bielefeld ohne Mur­nau – das wäre wie Bonn ohne Beethoven", sagen die Betreiber lachend.

Unterstützung durch die Stadt haben sie trotzdem nicht ­bekommen. Auch mit all ihren Aktivitäten, zu denen französische Filmabende mit der ortsansässigen französischen Gesellschaft gehören, erreicht das rührige Team bisher nur 50 Prozent von 2019. "Dass wir je wieder 100 erreichen, ist mehr als ungewiss. Das Ende ist nah." – Anders das "Liliom" in Augsburg und die "Harmonie" in Frankfurt am Main: Sie sind schon fast bei 99 Prozent, und zwar vom ersten Tag nach der Pandemie an, aus dem Stand sozusagen – mit Gastronomie und viel Musik.

Je früher sich Kinder ans Kino gewöhnen, desto stärker die Bindung

Auch die über 20 Prozent Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund sind ein dankbares Publikum. Im Ruhrgebiet laufen die kommerziellen türkischen Filme in den Multiplexen. In Kassel kommen Italiener für ihre Filmwochen ins Programmkino.

Eine andere Minderheit, die zu bedienen sich lohnt, sind die Kinder. Je früher sie sich ans Kino gewöhnen, desto stärker die Bindung, sagen Betreiber, die dieses Geschäft allzu lang den Multiplexen überließen. Sträflich vernachlässigt werden auch die Schüler. An fast allen Schulen drehen sie eigene Filme, kurze, lange, fast kommerzielle oder Avantgardefilme. Doch nirgends gehört Filmgeschichte oder gar die Filmsprache zum Lehrplan – ein Paradox. Anders in Frankreich, wo man im Hauptfach Film Abitur machen kann.

Wie groß eine Stadt ist, spielt für den Erfolg der Programmkinos keine Rolle. Wichtiger ist die Lebens­qualität, die man schon bei der Anfahrt spürt. Unis mit geisteswissenschaftlichen ­Fakultäten, Weinbau, urbane Schönheit, belebte Straßen, alles, warum man gern in der Stadt lebt, helfen dem Kino.

Das Kino rettet manche Innenstadt vor Verödung

Und das Kino rettet manche Innenstadt vor Verödung nach Ladenschluss. Zum Beispiel Bamberg: Da geht man sogar noch in Mitternachtsvorstellungen, seit 17 Jahren gibt es wöchentlich Previews, auch Kabarettisten treten regelmäßig vor der Leinwand auf. Da hat es das größere Erlangen nebenan ­schwerer mit ­seinem nüchtern-protestantischen Hugenotten­erbe – trotz seines herrlichen Barock­theaters und des leidenschaftlichen Kinoteams.

Als ich in Ulm im Vorraum des Programmkinos "Obscura" auf meinen Auftritt wartete, strömten Hunderte von jungen Leuten voll Vorfreude herein. Sie kamen nicht zu mir, sondern zu einem Poetry-Slam im großen Saal des "Roxy". Enttäuscht fragte ich mich, ob ich heute noch mal zum Film gehen würde. – Ja, natürlich würde ich das. ­Zumal nie so viel Audiovisuelles gesehen wurde wie heute.

Und doch: Als weniger Filme von fast allen gesehen wurden, tauschte sich das ­Publikum überall beim Essen und am Arbeitsplatz intensiv aus. Heute fehlt es an ­Gemeinschaftserlebnissen. Jeder bleibt in seiner Blase. Mein kleiner Dokfilm hat bei vielen, die ihn auf dem Laptop sahen, keine große Reaktion ausgelöst. Erst auf der Leinwand entfaltet er eine enorme Emotion, als ob ihm erst durch das gemeinsame Ansehen Leben eingehaucht würde.

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