Solidaritätsbekundungen bei Friedensprotesten, wie hier am Lincoln Memorial in Washington
WASHINGTON, DC - FEBRUARY 20: Demonstrators gather at the Lincoln Memorial to stand in solidarity with Ukraine and protest against the rising tensions between Russia and Ukraine before marching to the White House on February 20, 2022 in Washington, DC. Attendees called for U.S. President Joe Biden to take a stronger stance on deterring Russia from invading Ukraine and demanded the end of Russia's occupation of Crimea. (Photo by Kenny Holston/Getty Images)
Kenny Holston/Getty Images
Trauer ist im Moment überall
Eine Million Corona-Tote, ideologische Gräben, der Krieg in der Ukraine. Und doch gibt es Grund zu hoffen. Eine Pastorin in den USA beschreibt die Stimmung
11.03.2022

Der Theologe Walter Brueggemann schreibt in seinem Buch über Psalmen, dass viele Psalmgebete in drei Teile geteilt sind: Orientierung, Desorientierung, Neuorientierung. Damit folgen die Psalmen dem Zyklus des Lebens, in dem sich Krisen und Verlusterfahrungen immer in diesen Schritten entwickeln.

Die USA scheinen durch die schlimmste Desorientierung der vergangenen zwei Jahre Pandemie hindurchgekommen zu sein, allerdings mit fast einer Million Toten. Als deutsche Immigrantin würde ich sagen, dass die Amerikaner so etwas wie "Krieg im eigenen Land" erlebt haben. Das war unvorstellbar – bis die Erfahrungen von 2020 mit den unzähligen verstorbenen Familienmitgliedern und Freunden zeigten, wie tief das Land ideologisch gespalten ist: in Menschen, die die Wissenschaft und Fakten entweder bestreiten oder verteidigen. Dazu kam der 6. Januar 2021, der fast das Ende der Demokratie eingeleitet hätte.

Privat

Dorothea Lotze-Kola

Dorothea Lotze-Kola bildet Klinikseelsorger aus und ist Pastorin der deutschen Gemeinde in Atlanta.

Das Jahr 2022 begann mit einer Art Neuorientierung. Der Krieg in der Ukraine verbindet plötzlich politische Gegner innerhalb der USA. Viele erinnern sich an den Zweiten Weltkrieg, den die Eltern oder Großeltern erlebt haben. Das Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine ist groß. Auch kommt Furcht vor einem Dritten Weltkrieg oder einem nuklearen Krieg an die Oberfläche. Die niedrigeren Infektionszahlen erlauben, dass geimpfte und ungeimpfte Menschen ohne Mundschutz unterwegs sind, was die ideologische Spaltung weniger sichtbar macht. Der Berufsverkehr, der zwei Jahre wie stillgelegt war, ist wieder dicht und stockend.

Viele Kirchen, Geschäfte und Organisationen müssen von vorn anfangen, Mitglieder und Kunden zu werben. Das ist herausfordernd, bietet aber auch Chancen. Neue Strukturen werden begründet; neue Gesichter und Namen tauchen auf. Ideen und Bedürfnisse müssen neu bedacht werden. Vieles muss nun gleichzeitig analog und per Video angeboten werden, um allen gerecht zu werden, die teilnehmen wollen. Erst allmählich kommen die Leute in den Gottesdienst zurück. In der deutschen Gemeinde in Atlanta, wo ich Pastorin bin, sind es erst eine Handvoll. Die anderen feiern live über Facebook mit oder schauen sich den Gottesdienst später als Youtube-Video an.

Die therapeutische Praxis ist voll

Neben der neuen Betriebsamkeit und dem Wiederaufbau steht auch viel "Trauma- und Trauerverarbeitung" an. Als Ehe- und Familientherapeutin mache ich nun Zusatzausbildungen in Traumabehandlung, einschließlich Yoga und Meditation, die sich als sehr heilsam in der Behandlung von Traumata erwiesen haben. Meine Praxis ist voll. Jede zweite Person, die ich therapeutisch begleite, hat nie zuvor eine Therapie besucht. Videotherapie macht es möglich, Menschen in ihren Wohnzimmern zu sehen und zu betreuen. Das ist dann fast wie der Hausbesuch der Pastorin, die einen Trauerbesuch macht. Und Trauer, die ist im Moment überall.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.