Jeden Sonntagvormittag besuche ich Marianne Karmon. Sie ist unfassbare 100 Jahre alt und immer noch fit, besonders mental. Bei gutem Wetter sitzen wir zusammen auf ihrer Dachterrasse mit einem tollen Blick auf Jerusalem. Jede Woche rücken wir mit den Stühlen ein bisschen weiter Richtung Osten, um so lange wir möglich Sonne zu haben. Wir reden, und manchmal stöbern wir in ihren Fotoalben oder in ihrem Jerusalematlas. Sie war Kartografin.
Leonore Schweynoch
Ich mache ein Freiwilligenjahr mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in Jerusalem. Diese Organisation vermittelte mir den Kontakt zu Marianne. Mit jedem Treffen lerne ich einen neuen Abschnitt ihres langen Lebens kennen. Marianne wurde im Mai 1921 in Berlin geboren. Dass sie Jüdin war, erfuhr sie erst in der zweiten Klasse, als ihr ein anderer Stundenplan ausgehändigt wurde, weil sie den jüdischen Religionsunterricht besuchen sollte. Sie feierte mit der Familie Weihnachten, ging mit ihrer besten Freundin in die Kirche und besuchte eine christliche Schule.
Später wurde sie Teil der zionistischen Jugendbewegung. Und ging mit Hilfe dieser Organisation im Juni 1939 nach Schweden, um auf einem Bauernhof zu arbeiten. Sie blieb dort fast zehn Jahre, heiratete, bekam ihre Tochter Manja. 1949 wanderte die kleine Familie in den neu gegründeten Staat Israel aus. Das Schiff brauchte fünf Tage von Marseille nach Haifa.
Der Kibbuz war nichts für sie
Die ersten Jahre in Israel lebten sie zu dritt in einem Kibbuz, doch Marianne hatte schon vorher gewusst, dass das Kollektiv nichts für sie ist. Wann immer sie konnte, fuhr sie raus und erkundete das Land auf eigene Faust. Später zog sie nach Jerusalem, wo sie bis heute wohnt. Ihre Liebe zum Reisen ist immer wieder Thema bei unseren Gesprächen. Mariannes Wohnung ähnelt einem kleinen Museum. In ihrem Schlafzimmer stapeln sich Alben ihrer Reisen: von Amerika über den Sinai nach Frankreich bis Afrika und Südamerika. In der Wohnung hängen afrikanische Masken, Wandteppiche, Bilder aus Asien. Dazwischen selbst getöpferte Büsten und Tierfiguren.
Die Tochter stirbt
Marianne ließ sich von ihrem ersten Mann Hanan scheiden und heiratete später Yehuda, mit dem sie viel reiste. Mit Hanan aber blieb sie befreundet bis zu seinem Tod. Wie Bruder und Schwester, pflegt sie immer zu sagen.
Mitte der 1990er Jahre verlor sie ihre drei liebsten Menschen. Erst starb Yehuda, dann Hanan und kurz danach ihre Tochter Manja, die Krebs hatte. Marianne sagt, sie sei damals in ein großes, tiefes, schwarzes Loch gefallen.
Manja war erst um die fünfzig und lebte mit ihrem Mann in Singapur. Marianne war am Ende viel bei ihr. Bei meinem letzten Sonntagsbesuch erzählte sie mir, wie es nach Manjas Tod weiterging: Sie fühlte sich nicht bereit, wieder zurück nach Israel zu gehen. Besonders nicht allein. So buchte sie einen Flug nach Australien, besuchte einen Freund in Adelaide und tourte mit dem Auto bis zum Uluru. Sie erzählt mir davon, als sei es das Normalste auf der Welt.
Sich nicht aufgeben
Irgendwann kehrte sie doch nach Israel zurück. Sie habe sich damals vorgenommen, sagt Marianne, dieser schwierigen Lebensphase Zeit zu geben, aber nicht einzusacken. "Und deswegen kaufte ich mir einen Computer für den Kopf und töpferte, um etwas für die Hände zu haben." Marianne bastelt und töpfert bis heute. Sie ist auf Facebook aktiv und kann mittlerweile auch Zoom-Meetings organisieren.
Manchmal kann ich es gar nicht erwarten, bis es wieder Sonntag ist. Marianne ist eine sehr angenehme Gesprächspartnerin, aufmerksam und interessiert. Manchmal verlieren wir uns in den Gesprächen. So viele Einzelheiten, auf die wir nicht immer eingehen können. Wenn ich dann nachfrage, antwortet Marianne häufig: "Aber das ist eine ganz eigene Geschichte für das nächste Mal."