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„Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als atmete man kaum, ...“, denke ich am neunten November nachmittags, auf einer Parkbank sitzend. Abends um sieben weht ein anderer Wind. Zu diesem Datum lädt der Bürgerverein Synagoge die Bürgerschaft alljährlich zu einer Gedenkveranstaltung ein. Der Anlass ist etwas für Spezialisten. Ernste Feiern sind keine Publikumsmagnete. War die letzte Ziffer der Jahreszahl eine Acht, so kam in der Vergangenheit ein Gutteil der eigens geladenen Honoratioren, war es eine Drei (halbrundes Gedenken) immerhin deren Vertreter. In den dazwischenliegenden Jahren hing es oft von Wochentag, Wetter und (ja, auch) dem Fernsehprogramm ab. Das Stammpublikum war tendenziell 70+, glücklicherweise brauchte man auch in mauen Jahren mehr als die Finger beider Hände, um die Besucherscharen zu zählen. Stets ein gutklassiges Programm, Musikdarbietende und Rezitierende motiviert: Gelungene, würdige Abende waren es, gemessen an den Reaktionen der Beiwohnenden und dem Presseecho. Doch – wie gesagt – für eine übersichtliche Zahl geschichtssensibler Zeitgenossen.
Der Raum soll in diesem Zustand keiner Zusammenkunft dienen
In diesem Jahr ist es abends um sieben kalt und dunkel. Laubhaufen machen sich amöbenhaft-finster in Ecken und unter Bäumen breit. Atem steht vor der kalten Nase, während wir vor der Synagoge stehen. Wir sind drei. Alexandra, Rolf und ich. Mehr werden wir auch nicht. Für Rolf, den Juristen, sind wir der geschäftsführende Vorstand. Klingt wichtig und ist es auch für einen eingetragenen Verein. Doch nicht heute Abend. Denn wir wollen keine Geschäfte führen, wir wollen gedenken. Allein – und stellvertretend für den Verein und die Stadt. Wegen Corona und dem Zustand unseres Hauses. Das Wasser kam nicht in den Saal mit seinem Parkett. Aber es fand den Weg in die Küche, den Sanitärbereich und das Treppenhaus zur alten Frauenempore. Zwei Stufen vor dem Eingang zum Hauptraum machte es kehrt. Alles, was an Ausstattung zu retten war, wurde dort auf eilig ausgerolltem Malervlies abgestellt. Die Stühle stapeln sich unter einer dicken Staubschicht. Der Flügel sieht aus, als hätten Jeanne-Claude und Christo sich seiner angenommen. In diesem Ambiente des Elends den siebenarmigen Leuchter vor dem Toravorhang zu entzünden, nein, das schien uns nicht richtig. Wir bleiben draußen. Draußen vor der Tür. Der Raum soll 83 Jahre nach seiner Schändung in diesem Zustand keiner Zusammenkunft dienen. Aus Respekt und Pietät, haben wir überlegt. Wir bleiben draußen, weil wir alle drei selber erfahren haben, wie man buchstäblich über Nacht unbehaust werden kann im Eigenen. Wir bleiben draußen aus Solidarität mit den Juden, denen ihr geistiger Ort geraubt wurde. Und mit denen, die im Sommer Hab und Gut gänzlich verloren haben. Zwei Katastrophen, die nichts miteinander zu tun haben, beginnen in unserem Schweigen miteinander zu kommunizieren. Weil wir der einen gedenken müssen und die andere durchleben.
Sinnloses Gedenken?
Alexandra wippt diskret in ihren Fellstiefeln, Rolf räuspert sich, ich spüre mit wachsender Unruhe, wie sich ein Tropfen an der Nasenspitze zu bilden beginnt. Unser einsamer symbolischer Akt im Freien endet menschlich, allzu menschlich. War er vergeblich? Vielleicht. War er sinnlos? Nicht für uns.