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Als ich heute Morgen auf meinem Balkon in der Sonne saß, um ein leckeres Frühstück zu genießen, erinnerte ich mich an meinen Vater und seinen Buchhändler. Vor kurzem waren wir noch in seinem Buchladen. Ich war begeistert von den vielen persischen Büchern und wollte so viele wie möglich kaufen. Als ich zahlen wollte, lächelte der Buchhändler meinen Vater und mich an und bestand darauf, uns die Bücher zu schenken. Diese Großzügigkeit war unglaublich. Ich wusste von meinem Vater, dass der Buchhändler für ein Brot mindestens fünf Bücher verkaufen musste. Uns schenkte er sie. Als ich daran dachte, konnte ich auf meinem Balkon gleich nicht mehr weiter frühstücken.
Immer wieder Vergleiche zwischen der neuen und alten Heimat
Schon seit einigen Wochen meide ich es, die Nachrichten aus Afghanistan zu verfolgen. Heute allerdings habe ich mich auf eine lokale News-Webseite verirrt und eine Überschrift sprang mir ins Auge: „Acht Kinder verhungert“. Sofort musste ich meinen Laptop schließen. Meistens fällt es zumindest etwas leichter, solch schlechte Nachrichten aus weit entfernten, fremden Ländern zu lesen. Wenn man aber dort aufgewachsen ist und gelebt hat, fühlt es sich an, als wäre man selbst davon betroffen.
Migrant*innen wie ich, die erst als Jugendliche oder Erwachsene die westliche Welt kennengelernt haben, leiden immerfort unter Vergleichen. Vergleiche darüber, was es hier gibt und dort nicht. Ausreichend Lebensmittel, eine warme Wohnung mit Bett und ein sicheres Umfeld sind nicht überall selbstverständlich. Es fällt mir schwer, mein Leben hier zu genießen, wenn die Unterschiede so riesig sind, dass eine Angleichung der Lebensstandards völlig unmöglich scheint.
Die Armut in Kabul war schon vor dem 15. August da - jetzt verhungern Kinder
Meine Mutter sagt, dass jedes Mal, wenn sie beim Bäcker ist, mindestens zehn Kinder und Frauen darum betteln, für sie auch etwas Brot zu kaufen. Armut ist schon lange ein großes Problem in Afghanistan. Bereits vor dem 15. August lebten die Hälfte aller Afghanen unterhalb der Armutsgrenze. Aber wenigstens konnte man noch arbeiten, um sich am Ende jedes Tages etwas Brot leisten zu können. Frauen verkauften frische zubereitete Speisen, Kinder putzten Schuhe oder versuchten ein paar Sachen zu verkaufen. Witwen nähten Kleider und verkauften sie an Läden. Seit dem Fall der Regierung habe ich eine Vielzahl von Nachrichten erhalten. Von Freunden, die keine Arbeit mehr haben und um Spenden bitten. Bis vor Kurzem waren sie noch erfolgreiche Journalisten, Aktivisten oder Mitarbeiter in der Regierung. Inzwischen sind sie nicht mehr in der Lage ihre Familien zu ernähren.
Wenn ich die Heizung in meiner Berliner Wohnung sehe, muss ich oft an die kalten Winter in Kabul denken. Diese haben mir immer Angst gemacht. Die Kälte war kaum auszuhalten. Obwohl meine Familie finanziell nicht sonderlich schlecht dastand, konnten wir immer nur einen einzelnen Raum etwas mit Kohle aufheizen. Die restliche Wohnung war bitterkalt, sodass ich mehrere Jacken übereinander tragen musste. Dann sah ich aus wie ein Polarbär – gefroren habe ich immer noch.
Was wird im Winter? Wieviele Menschen werden erfrieren?
Aufgrund der beginnenden Konflikte vor einigen Monaten flohen tausende Menschen aus den Provinzen nach Kabul. Dort schlafen sie nun in Parks oder verlassenen Gassen. Am Tag vor meiner Abreise sah ich eine ganze Familie auf ein paar zerfetzten Kleidern sitzen, mitten auf der Straße. Der Vater bat mich um ein bisschen Kleingeld, damit er Brot kaufen könne. Ich frage mich, wo sie jetzt in der Kälte unterkommen werden und ob es überhaupt Decken für die Kinder gibt. Ich wage es nicht, meine Heizung einzuschalten und nachts öffne ich alle Fenster, um die Kälte Kabuls nicht zu vergessen.