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Doch, doch, das ist schon ein Mutter-Sohn-Bild. Und ja: Die Anordnung stimmt auch. Zumindest von den Größenverhältnissen her. Was René Magritte hier in seinem "Der Geist der Geometrie" von 1937 aufgreift, ist nichts Geringeres als eines der Leitmotive abendländischer Kunst. Für gewöhnlich aber hält die Frau das Kind und für gewöhnlich ist sie Maria und der Kleine in ihren Armen der spätere Heiland.
Hier ist es offenkundig anders. Es weht eben ein besonderer Geist durch diese Geometrie – wenn man das Personal mal auf seine geometrischen Formen reduzieren möchte. René Magritte hat die gewohnte Anordnung einmal tüchtig durcheinandergewirbelt. Etwas, das der belgische Künstler in seinen Werken äußerst gerne tut. Seien es Bilder im Bild, abgetrennte Gliedmaßen oder aus dem Zusammenhang gerissene Figuren, die – neu zusammengesetzt – scheinbar traumhafte Widersprüche erzeugen und ihm den Ruf und den Ruhm eines großen Surrealisten einbrachten.
Dabei hat Magritte mit Traum-Malerei nix am Hut. Seine Kunst ist eine Art beständiger Realitätscheck. Ergebnis: Was wirklich wirklich ist, ist selten eindeutig. Kein Wunder, dass Magritte eine besondere Beziehung zu einem der großen philosophischen Dekonstrukteure des 20. Jahrhunderts pflegte. Mit Michel Foucault unterhielt er einen Briefwechsel. Der französische Star-Philosoph verfasste sogar einen Essay über Magrittes berühmtes Bild einer Pfeife, unter der der Satz zu lesen ist: "Das hier ist keine Pfeife." Diese vermeintlich nur zum Schmunzeln anregende Bild-Text-Schere schnürt bei längerem Nachdenken einige Knoten ins Gehirn. Das Bild ist natürlich nur die Abbildung einer Pfeife, wirklich stopfen und rauchen lässt sie sich nicht – schon klar. Aber dass es keine Pfeife wäre, die da abgebildet ist, stimmt so auch wieder nicht. Es ist ja eine Pfeife auf dem Bild. Oh weh! Die Welt, soll Magritte einmal behauptet haben, verhöhne den gesunden Menschenverstand. Auf eine traurige Art und Weise hat der Künstler das bereits als Kind erfahren müssen. Seine Mutter war psychisch krank, litt an schweren Depressionen. Eines Abends schlich sie sich aus der Wohnung und ertränkte sich in einem nahe gelegenen Fluss.
Und damit zurück zum Bild hier: Womöglich fasst "Der Geist der Geometrie" ein Phänomen zusammen, das aus der Familientherapie als Parentifizierung bestens bekannt ist: Die Kinder psychisch kranker Eltern müssen oft ungewollt selbst sehr früh in eine elternähnliche Rolle schlüpfen, Aufgaben und Verantwortung übernehmen, die eigentlich Vater oder Mutter schultern. Stellt Magritte das in "Der Geist der Geometrie" dar? Trägt er hier seine Mutter im Arm, die – gefangen in ihrer Krankheit – kindliche Fürsorge vom eigenen Sohn verlangt? Zieht die Mutter ihn an sich, während er sie eher abwehrt? Ihre Blicke treffen sich nicht. Es scheint keine gute Beziehung zwischen beiden zu herrschen.
Wie so oft ist es auch hier sehr verlockend, die Kunst mit dem Leben des Künstlers zu deuten. Ein heikles Unterfangen – auch wenn es so naheliegend scheint. René Magritte selbst sprach praktisch nie über den Tod seiner Mutter und sein Verhältnis zu ihr. Auch ohne biografisches Hintergrundrauschen taugen Bilder wie "Der Geist der Geometrie" gut als Einladung zum Nachdenken über die Welt, in der wir leben. Eine leichte Verschiebung gewohnter Muster, Formen oder Figuren bringt oft vieles ins Wanken.