Der tansanische Student begrüßte mich in fließendem Deutsch. Ich war überrascht. Er erzählte, dass er ein Jahr lang in Deutschland gelebt hatte, für ein Volontariat in einer Kirchengemeinde. Eigentlich ein Sechser im Lotto. Einmal nach Europa ‒ davon träumen wirklich alle und dann ein ganzes Jahr! Aber je besser ich den jungen Mann kennenlernte, desto mehr bedauerte ich ihn. Er ist Teil einer großen Maasai-Familie. Diese ging selbstverständlich davon aus, dass alle Mitglieder profitieren, wenn einer von ihnen so eine Chance bekommt. Jeder wisse ja, dass Deutschland reich sei . . .
Gabriele Mayer
Ich sah, wie der Student zunehmend unter Druck geriet. Unter Deutschen wurde schon vor ihm gewarnt, weil er jeden um Geld bat. Oft für dieselbe Sache. Aber er hatte keine andere Chance. Die Familie nahm ihn in die Pflicht, weil er Kontakt zu Europäer:innen hatte. Mal brauchte ein Onkel Geld für Medikamente, mal die Cousine eine Schuluniform. Die Familie sorgte dann auch dafür, dass er bald heiratete. Er wäre lieber erst mal seinen eigenen Interessen gefolgt, wie er das in Deutschland erlebt hatte.
Demut und Gehorsam
Man lebt nicht allein für sich – ich staune immer wieder, wie sehr den Menschen das hier bewusst ist. Sie fühlen sich der Familie, der Gesellschaft und der Kirche verpflichtet. Und Gott. Über sein Leben entscheidet man nicht selbst. Das fiel mir einmal mehr bei einer Vorstellungsrunde auf. Als ich dran war, erzählte ich wie immer: "Ich entschied mich, dann bewarb ich mich . . ." Die Tansanier:innen dagegen benutzten durchgehend Passivformen: "Ich wurde ausgesucht, versetzt, gerufen . . ." Dass sie dem Ruf auch folgen, steht außer Frage. Demut und Gehorsam gelten als Tugenden. Sie werden zum Beispiel bei Beerdigungen gewürdigt, etwa auch beim kürzlich verstorbenen Präsident John Magufuli.