Wie ist die Corona-Situation in Asien?
Maximilian Mayer: Die meisten Länder im asiatisch-pazifischen Raum haben die Lage dank einer Eliminierungsstrategie im Griff. Es ist bitter, dass die Situation bei uns immer noch außer Kontrolle ist und wir von einem Lockdown zum nächsten taumeln, während – jedenfalls in den demokratischen Staaten wie Australien oder Taiwan – die Menschen zu einem normalen Leben zurückgekehrt sind und die Kinder zur Schule gehen. China ist ein autoritäres Land, aber die Leute können dort große Konferenzen veranstalten und ins Kino gehen, sie können mobil sein. Nur ins Ausland reisen – das ist schwierig. Alle erfolgreichen Länder haben ein stringentes Quarantänemanagement. Das ist auch in Neuseeland und Australien gesellschaftlich akzeptiert.
Das sind Inselstaaten! Deutschland liegt mitten in Europa …
Insellagen erleichtern die Pandemiebekämpfung, aber auch diese Länder sind stark vernetzt, etwa über Flüge und Fährverbindungen. Und Asien besteht nicht nur aus Inseln. Thailand und Singapur sind interessante Beispiele, dort gibt es eine starke Arbeitsmigration, dennoch sind sie erfolgreich. Der Verweis auf die geografische Lage von Staaten, die besser durch die Pandemie kommen, ist ein Totschlagargument, um nicht über Alternativen zu unserem Weg nachdenken zu müssen.
Maximilian Mayer
Wie meinen Sie das?
Statt von asiatischen Staaten zu lernen, höre ich immer wieder Argumente wie: "Das sind autoritäre Systeme, Inseln oder andere Kulturen!" Würde man das Ganze ohne Scheuklappen betrachten, könnte man sehen, dass die meisten asiatischen Länder zwei Dinge gemacht haben: Sie haben sehr schnell reagiert und Lowtech- und Hightechmaßnahmen kombiniert. Also Masken, alle möglichen Apps, um Kontakte nachzuverfolgen und Quarantäneeinhaltung zu überwachen, Teststrategien; sie haben die Kontaktsuche durch die Gesundheitsbehörden massiv ausgebaut und konsequente Quarantäneregelungen erlassen. Und sie haben nicht erst skeptisch gefragt, ob dies oder jenes perfekt funktioniert. Bei uns gab es hingegen einen irrwitzigen Maskenskeptizismus, über Monate. Lowtech wollten wir erst nicht haben, Hightech wie etwa die Corona-App sind ineffizient und kamen mit Verzögerung – das ist ein Grund, warum wir da stehen, wo wir heute stehen.
Warum tun wir uns in Deutschland schwer, von anderen zu lernen?
In Europa sagten einige Virologen und Epidemiologen anfangs: "Auch wenn Corona nicht wie die Grippe sei, laufe es letztlich auf eine Durchseuchung der Bevölkerung hinaus." Das war als Ausrichtung gesetzt, und keiner konnte mehr wirklich nachdenken über die Frage, ob wir das Virus nicht eliminieren könnten. Keine der einschlägigen Fachgesellschaften ist auf die Idee gekommen, sich mal an die Kollegen in Asien zu wenden und nachzufragen: "Was macht ihr, wieso eliminiert ihr, wie kann das klappen?" Die Politik hat diesen Schritt ebenfalls versäumt. Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hätte ja mal den Gesundheitsminister aus Taiwan oder Südkorea einladen können.
"Wir tendieren dazu, Asien auf China zu reduzieren"
Ja, warum nicht?
Das liegt daran, dass wir in unserer Wahrnehmung dazu tendieren, Asien auf China reduzieren. Wir sehen deshalb alles durch eine politisch-ideologische Perspektive, nicht durch eine rein sachliche, weil uns das aufsteigende China immer mehr als Bedrohung erscheint. Verstärkt wird diese Wahrnehmung durch alle möglichen Zerrbilder, Stereotype und Orientalismen und auch durch antiasiatischen Rassismus. Auf jede neue Information haben wir mit einem Vorurteil geantwortet. Daten aus China? - Die sind bestimmt manipuliert! Todeszahlen aus China? - Bestimmt gefälscht! Eine sachliche Einschätzung, die gerade für die Risikoabwägung in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie wichtig gewesen wäre, kann so gar nicht stattfinden. Und wenn man Epidemiologen sagen hört: "Na ja, die Tests in China – die sind nicht so gut wie unsere!" oder "China greift zu mittelalterlichen Methoden" – dann ist das eine reflexhafte Wegwerfbewegung, aber keine wissenschaftliche Auswertung des chinesischen Maßnahmenpaketes. Interessant sind Zuschriften, die ich nach Beiträgen im Cicero und in der NZZ von Physikern, Mathematikern, Ingenieurinnen bekommen habe, die sagen: "Nicht nur im Gesundheitssektor, auch in unseren Arbeitsbereichen will man einfach nicht von Asien lernen!"
Sie sprechen von "Orientalismen" – was verstehen Sie darunter?
Orientalismus, ein Begriff, den Edward Said eingeführt hat, bedeutet: das andere als Gegensatz zu konstruieren, um sich selbst als überlegen zu definieren. Wir grenzen uns dabei ab, indem wir abwerten – die anderen sind weniger zivilisiert, weniger liberal, weniger intelligent und so weiter. Gerade in der Beziehung zu China und Asien hat das eine lange Vorgeschichte. Das letzte Mal positiv gesehen hat man China im deutschen Sprachraum vielleicht zu Zeiten von Gottfried Wilhelm Leibniz, in der Frühaufklärung. Mit einer kurzen Ausnahme durch die 68er, die den Maoismus hochgehalten haben. Aber ansonsten war und ist immer die trügerische Hoffnung da, dass sich ein rückständiges China dem Westen kulturell und letztlich politisch angleicht. In dieser Erwartung steckt ein orientalistisches Moment. China wird aber, ob es uns in Europa gefällt oder nicht, seinen eigenen Weg gehen.
"Bei der Digitalisierung geraten wir in Deutschland ins Hintertreffen"
Es ist eben auch bequem zu sagen: "Okay, die haben in Asien gut funktionierende Corona-Apps, aber halten nichts vom Datenschutz …"
… was nicht stimmt. Es gibt intensive Datenschutzdebatten in Japan, in Taiwan, in Südkorea, sogar in China. Ich hoffe, eine Lehre aus der Pandemie wird sein, dass wir massiv digitalisieren, gerade im Bildungswesen und im Gesundheitswesen. Zum Zaudern und Zögern bleibt nicht viel Zeit. Denn in Asien gibt es eine ungeheure Dynamik. Vielen ist nicht bewusst, dass unser Reichtum nicht auf alle Zeit gesichert ist und wir gerade im Bereich der Digitalisierung immer mehr ins Hintertreffen geraten. Das schlechte Corona-Management hierzulande ist ein Alarmsignal. Dabei machen mir nicht die sogenannten Querdenker die größten Sorgen, sondern führende Politiker, die wissenschaftsfeindlich agieren und die unfähig sind, evidenzbasiert zu kommunizieren und ihr Handeln strategisch darauf aufzubauen.
Vielleicht haben westliche Politiker eben den Kompromiss im Kopf, sind daran gewohnt, die Interessen verschiedener Gruppen auszuhandeln?
Für Entscheider ist diese Zeit eine maximale Zumutung. In Demokratien ist Verhandlung und Kompromiss das Kerngeschäft der Politik. Aber mit der Verbreitungsdynamik eines Virus lässt sich nicht verhandeln. Und mit der Argumentation, dass wir die Freiheitsrechte nicht zu sehr einschränken können, sind wir in einer alptraumartigen Situation gelandet – nämlich, dass wir sie massiv immer weiter einschränken mussten, über viele Monate. Länder, die am Anfang härter und mit klarer Zielsetzung vorgegangen sind, können nun alle liberalen Freiheiten genießen, ohne Leben aufs Spiel setzen zu müssen. In Australien gab es eine Debatte im Parlament auf Basis eines 50-Seiten-Papiers, in dem die großen Universitäten Strategien vorgelegt haben, die von einer Koexistenz mit dem Virus bis hin zur Eliminierungsstrategie reichten. Ende Juli 2020 hat das australische Kabinett sich dann für eine Unterdrückungsstrategie entschieden mit dem Ziel, jegliche lokale Übertragungen zu verhindern. Auf der Ebene der Staaten wurde dies mit aller notwendiger Konsequenz, wie etwa durch einen harten Lockdown in Victoria, umgesetzt. Wir diskutieren stattdessen über den eigentlich vermeidbaren Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit oder zwischen Freiheit und Infektionsrisiko. Die grundlegenden strategischen Optionen wie Virussuppression und -eliminierung haben wir in Deutschland nie ernsthaft debattiert.
Warum nicht – was meinen Sie?
Die Politik war vom Prinzip der falschen Hoffnungen geleitet, die auf Dauer aber nirgends funktioniert und die Menschen nur frustriert hat. Dieses Prinzip zeigt sich durch Aussagen wie: "Im Sommer wird alles besser. Die Impfungen sind der schnelle Weg aus der Pandemie. Mit Tests können wir öffnen." Diese Versprechen griffen zu kurz. Sie weckten Erwartungen, die alle enttäuscht worden sind.
Im vergangenen Sommer war alles perfekt für No-Covid, es gab kaum neue Fälle. Aber waren wir vorbereitet, mit all den Mängeln, die sich in der ersten Welle zeigten, Stichwort Faxgeräte in Gesundheitsämtern?
Im Sommer waren wir in vielen Kreisen im grünen Bereich, die Gesundheitsämter waren personell aufgestockt. Was hätten wir tun müssen, um den Erfolg zu bewahren? Was ist mit Ferienreisen im Sommer? Wie hätten wir umgehen müssen mit den Quarantänen der Rückkehrer? Hätten wir sagen sollen, wir machen 2020 lieber keinen Urlaub in Kroatien oder Spanien? Das hätte man kollektiv überlegen können – haben wir aber leichtsinnigerweise nicht. Warum hat es Monate gedauert, dass man das Programm "Sormas" in den Gesundheitsämtern installiert? Das hätte man im April 2020 machen können, es war erprobt, Hunderte Informatikstudierende, die zu Hause saßen, hätten es installieren können. Wenn die Landesregierungen die digitale Verbesserung der Kontaktnachverfolgung nicht priorisieren, dann passiert es eben nicht. Oder: Wer hätte Ministerpräsidenten verbieten können, alle Schulen in ihrem Bundesland mit Lüftungsanlagen auszustatten und Modellversuche für Teststrategien zu beginnen? Niemand! Sie haben es einfach nicht gemacht.
"Wenn die Leute wissen, worauf wir gemeinsam hinarbeiten, schafft das Motivation"
Wird Ihr Rat als No-Covid-Initiative noch gesucht?
Wir sind seit Januar dauernd in Gesprächen. Über alle Ebenen und Parteien hinweg sind Menschen interessiert. Auch die Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände kommen auf uns zu. Das ist gut, die Leute setzen sich mit unseren Ideen auseinander. Aber es ist auch frustrierend, wie träge es läuft, dabei ist rasch und unperfekt zu handeln in einer Pandemie immer besser als abzuwarten.
Wie lange würde es dauern, Ihr Inzidenzziel von zehn Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner zu erreichen, wenn wir nun eine15 mal so hohe 7-Tages-Inzidenz haben?
Man muss auf die Daten achten, nicht auf Termine. Die Inzidenzen bleiben entscheidend, alles andere hinkt hinterher. Es nutzt auch nichts, einfach nur abzuwarten, bis die Zahlen unten sind. Die No-Covid-Toolboxen, also unsere Werkzeugkoffer, sehen vor, alle Maßnahmen mit einem intelligenten Lockdown zu kombinieren – also strategisch und hochfrequent testen, Quarantänehotels einrichten, Gesundheitsämter stärken, die Corona-Warn-App verbessern und vieles mehr. Entscheidend für die Umsetzung ist neben der Logistik auch die politische Kommunikation: Wenn die Leute wissen, worauf wir gemeinsam hinarbeiten, klappt es besser, das schafft Motivation. Dafür sollten auf kommunaler Ebene zivilgesellschaftliche Gruppen eingebunden werden, auch die Kirchen, die zum Beispiel Menschen in Quarantäne unterstützen können. Unser Ziel ist ja nicht ein Lockdown. Unser Ziel sind Öffnungen, die Bestand mittels niedriger Inzidenzen haben. Wir wollen raus aus der Sackgasse der Jo-Jo-Lockdowns.
Was ist die No-Covid-Strategie?
Unser Gesprächspartner Maximilian Mayer engagiert sich gemeinsam mit weiteren Wissenschaftler:innen und Mediziner:innen wie Melanie Brinkmann, Dirk Brockmann, Heinz Bude und Clemens Fuest für die interdisziplinäre No-Covid-Strategie. Die Autorinnen und Autoren der Strategie schlagen vor, die Infektionszahlen mit einem letzten, intelligenten Lockdown (und weiteren flankierenden Maßnahmen wie Massentests, beschleunigtem TTI und schnellerem Impfen) in Richtung null zu senken, was im Sommer 2020 bereits gelungen war. Regionen ohne Neuinfektionen unbekannten Ursprungs werden zu Grünen Zonen; mit lokalen Mobilitätskontrollen zwischen den Zonen, Tests und Quarantänen sollen neue Corona-Fälle und Übertragungen vermeiden. In den Grünen Zonen sind weitgehende Öffnungen und ein normales Leben möglich. Das Konzept soll für ganz Europa angewandt werden, es ist also grenzüberschreitend gedacht. Das Ziel ist eine vollständige Rückkehr zur Normalität ohne wiederkehrende Beschränkungen.