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Wie Schweizer Pfarrer mit Sterbehilfe umgehen
In der evangelischen Kirche wird zurzeit über Sterbehilfe diskutiert: Einige plädieren für gesetzliche Öffnungen, andere warnen davor. Mich interessieren die oft übersehenen praktischen Fragen unterhalb der Prinzipienebene: Wer sollte es wie und wo machen? Und was wäre die Aufgabe der Seelsorge? Zeit für einen Blick über die Grenze, in die Schweiz.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
29.01.2021

Wie Sterbehilfe in der Schweiz ganz praktisch abläuft, habe ich in meinem neuen Buch „Die seltsamsten Orte der Religionen“ beschrieben. Denn die „Blaue Oase“ in Pfäffikon bei Zürich ist in der Tat ein seltsamer, irgendwie auch religiöser Ort: Für einige Menschen in Deutschland ein Sehnsuchts-, für andere ein Schreckensort. Hier werden schwerkranke Menschen von Mitarbeitern eines Vereins vom Leben in den Tod geführt. Aber das will ich hier nicht wiederholen, sondern von einem Telefonat mit einem Schweizer Kollegen und Freund berichten, das ich für die Recherche geführt habe und das dann nicht ins Buch eingeflossen ist.

Was für die deutsche Seelsorge noch eine große Ausnahme darstellt, ist für die Schweiz zwar keine Routine, aber eine durchaus häufigere Herausforderung. Mit einiger Regelmäßigkeit hören Pfarrerinnen und Pfarrer von alten oder kranken Menschen, dass sie mit der Hilfe einer Organisation sterben wollten – oder nachher erzählen Angehörige bei der Vorbereitung der Beerdigung davon. Mein Kollegenfreund berichtet, wie er sich dann bemüht, nicht als theologischer Richter aufzutreten, sondern als Seelsorger, der Menschen begleitet, ohne sie zu beurteilen. Die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen würden es ebenso halten. Einige wären sogar schon von Sterbewilligen gebeten worden, bei ihrem Freitod in einem Haus wie der „Blauen Oase“ dabei zu sein – und hätten dies auch getan. Er selbst sei dies noch nicht gefragt worden. Ihm sei es wichtig, Menschen zu respektieren, die in einer extremen Situation eine wohlüberlegte Entscheidung gefällt hätten, und sie nicht allein zu lassen, auch wenn er selbst eine andere Wahl treffen würde. Es ginge hier nicht darum, dass Menschen gegen ein Gebot Gottes verstoßen wollten, sondern um besondere Härtefälle sowie häufig um problematische Folgen eines von Menschen gemachten medizinischen Fortschritts, der es möglich mache, über das humane Maß hinaus zu therapieren.

Allerdings stoße er sich an der weltanschaulichen Emphase mancher Freitod-Aktivisten. Sie würden das Ideal eines vollkommen selbständigen Individuums beschwören, das wesentliche Momente des Menschseins ausblende: die Unverfügbarkeit des Lebens, die Begrenztheit des eigenen Denkens, Planens und Handelns, die Angewiesenheit auf andere. Zudem habe sich die Medizin in den vergangenen Jahren erheblich verändert und gelernt, die Grenzen der eigenen Arbeit zu beachten – zum Wohl der Sterbenden. Längst gebe es auch andere Wege als den Suizid, um unerträgliches Leiden zu lindern und zu verkürzen. Die Medizin tauge jedenfalls nicht mehr – ebenso wenig wie die evangelische Kirche – als Feindbild derer, die für ein humanes Sterben eintreten. Auch würde ein übersteigertes Selbstbestimmungspathos einen wesentlichen Gesichtspunkt ausblenden. Entscheidend sei, dass Betroffene offen und ehrlich mit ihren Ärzten und Angehörigen über ihre Ängste, Schmerzen und Todeswünsche sprechen – und diese wirklich zuhören. Man unterschätze leicht, welch verheerende Auswirkungen ein unangekündigter Suizid auf Angehörigen haben kann. Nicht selten stecke in ihm eine Portion Aggression oder zumindest die harte Weigerung, Schwäche zu zeigen und Hilfe anzunehmen. Die Parole „Mein Ende gehört mir“ blende aus, dass jedes menschliche Leben und Sterben Teil des Lebens anderer Menschen ist. Aber er wolle sich eigentlich nicht an ideologischen Streitereien beteiligen, sondern – wenn gewünscht – Menschen in besonderer Not als Seelsorger begleiten, sie besuchen, ihnen beistehen und zuhören, sie verstehen wollen, mit ihnen schweigen und beten und sie dann in Würde beerdigen.

P.S.: Wer die Debatte verfolgen will, der besuche regelmäßig die Website der evangelischen Zeitschrift „Zeitzeichen“. Dort finden sich regelmäßig aktuelle Beiträge.

P.S.: „Für ein Ende der Märtyrer-Verehrung!“ Darüber spreche ich in einer neuen Folge meines Podcasts mit dem Biographen von Hans und Sopie Scholl, Robert Zoske. Man kann sie über die Website von reflab.ch, Spotify oder Apple Podcasts hören.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur