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Zögernd stellt Salvador seine schmutzigen Füße in die blaue Plastikwanne. Ich knie vor ihm, benetze behutsam seine Füße mit Wasser, stelle sie dann auf mein Bein und reibe sie mit dem sauberen Tuch ab. Ich blicke auf zu ihm und sehe seine Tränen. Auch mein Blick trübt sich. Er reicht mir die Hand und richtet mich auf. Wir umarmen uns. – Andere in der Runde machen es uns nach.
Fernando Enns
Salvador kommt aus El Garzal, einem weit entlegenen Dorf von Campesinos, Kleinbauern. Nach 60 Jahren Bürgerkrieg in Kolumbien zählt ihre Gegend zu den unsicheren, gefährlichen des Landes. Wir trafen uns auf halbem Wege zwischen Bogotá und El Garzal an einem Ort, der geheim bleiben muss. Ich war mit einigen deutschen Studierenden in Kolumbien unterwegs. Wir saßen mit Salvador, dem Pastor der Gemeinde und einigen Dorfbewohnern und -bewohnerinnen, denen Gewalt angedroht wurde, auf Stühlen, alten Sofas oder auf dem Boden. Der Raum war eng, und der Wind wehte angenehm durch die offenen Fenster und Türen.
Campesinos erklärten mit der Bibel, was sie meinten
Tags zuvor hatten die Campesinos von sich erzählt: Salvador und die anderen Bauern von El Garzal weigern sich, ihr Land an einen Großgrundbesitzer abzutreten – Land, das ihre Vorfahren schon bewirtschafteten. Sie leisten gewaltfrei Widerstand, kämpfen vor Gericht, halten öffentliche Gottesdienste, verbringen abwechselnd die Nächte als menschliche Schutzschilde um das Haus des Pastors der Gemeinde: "Wenn sie ihn umbringen wollen, müssen sie uns alle töten." Sie beten viel und halten zusammen.
Einige Campesinos aus El Garzal waren bereits ermordet worden. Den bewaffneten Schutz, den oppositionelle Guerillagruppen anboten, lehnten sie ab. Dennoch unterstellten Regierungssoldaten ihnen Komplizenschaft mit den Guerilleros und verwüsteten Teile des Dorfes. Kürzlich waren wieder bewaffnete, schwarz gekleidete Männer in Salvadors Dorf El Garzal aufgetaucht, von denen man nicht genau wusste, was sie dort wollten.
Während sie davon erzählten, nutzten manche Campesinos Bibelverse, um zu veranschaulichen, was sie meinen. Auch wenn viele von ihnen nicht lesen oder schreiben können, die Bibel ist ihnen vertraut. Eine Frau sang ein Lied und begleitete sich dabei auf ihrer Gitarre, andere weinten dabei. Es war ein langer Samstagnachmittag, der mit einer gemeinsamen Mahlzeit und vielen kleineren Gesprächen endete. Wir haben auch viel gelacht.
Und dann, am Sonntagmorgen, feierten wir gemeinsam Gottesdienst. Dazu gehört, dass wir einander die Füße wuschen, so wie es Jesus mit seinen Jüngern an seinem letzten Abend vor der Passion gehalten hat. Ich kniete also vor Salvador, berührte seine Füße, und die Tränen liefen über unsere Gesichter.
In diesem Augenblick habe ich eine Geschichte aus der Bibel neu verstanden, jene, die in vielen Bibeln überschrieben ist mit "Der ungläubige Thomas": Die anderen Jünger erzählen Thomas, sie hätten den Auferstandenen gesehen. Und Thomas antwortet: "Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben" (Johannes 20,25). Bis zu jenem Sonntag irgendwo in Kolumbien hatte ich immer gedacht, die Geschichte bemängele, dass Thomas den Auferstandenen anfassen will, weil er nur glaubt, was sich beweisen lässt.
Während ich Salvadors Füße berührte, hat sich mir der Text neu erschlossen.
Der Auferstandene wendet sich Thomas zu und fordert ihn auf, seine Finger in die Wunden – auf Griechisch "traumata" – zu legen, ihn zu berühren. In dem Moment bekennt Thomas seinen Glauben und sagt zu Jesus: "Mein Herr und mein Gott." Thomas erkennt, wer der Auferstandene tatsächlich ist: ein Verwundeter.
Im Grunde ist auch Salvador ein Traumatisierter, ein Verwundeter. Seine Wunden und die der Geschändeten und Verschleppten von El Garzal – das sind Christi Wunden. Und wenn ich Christus bekennen will, dann kann ich mich nicht einfach von diesen Wunden abwenden. Dann geht Salvadors Leid mich etwas an.
Thomas aber, einer der Zwölf, der Zwilling genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich's nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! (Johannes 20,24-29)