"Bis in die Nacht saß ich an meinem Schreibtisch", erzählte mir neulich Tom, ein versierter Essayist. "Ich sollte das Vorwort zu einer Gedichtsammlung eines guten Freundes schreiben. Ich hatte zwar eine Idee, aber der Einstieg in den Text wollte mir einfach nicht gelingen. Mein Hirn war völlig blockiert. Nach circa dreißig Versuchen gab ich auf."
Das kam mir bekannt vor. Man hat eine Idee, ist hellwach, fühlt sich ganz gut. Man knipst das Notebook an . . . und die Gedanken flattern einem ohne Ziel durch den Kopf. Und jeder Versuch scheitert, aus den Stichworten auf dem Papier neben der Tastatur die ersten Zeilen zu formulieren.
Arnd Brummer
Tom ging zu Bett, blieb aber bis in den Morgen schlaflos. Dann rief er den Lektor des Buches an und teilte ihm mit, dass er das Vorwort nicht schreiben könne. "Ich kenne diesen Menschen schon eine halbe Ewigkeit. So konnte ich ihm kurz und schmerzvoll von meiner Hirnblockade berichten." Aus dem Hörer klangen aufmunternde Worte, zuletzt die Aufforderung: "Bewege dich! Das fördert die Kreativität. Egal, ob Wandern, Joggen oder Radfahren – wenn der Puls ein wenig ansteigt, purzeln einem die Ideen ins Gehirn."
Tom mochte es zunächst nicht glauben. Beim Surfen durchs Internet begegneten ihm jedoch zahlreiche Hinweise, die den Rat des Lektors bestätigten. Outdoor, Herr Autor! Geh, Sünder! Es ist gesünder! Tom machte sich auf den Weg. "Eine Stunde war ich bei miserablem Wetter unterwegs – ohne Regenschirm oder Anorak. Patschnass war ich." Für Gedanken zum Text war kein Platz im Hirn.
Goethe löste eine Lebenskrise, indem er nach Italien aufbrach
Nachdem er die Klamotten gewechselt hatte, begab sich der Autor an seinen Schreibtisch. "Schon während ich das Textprogramm hochfuhr, rasselten zwei wunderbare Eingangssätze durch meinen Kopf." Innerhalb einer Stunde hatte er das Vorwort geschrieben und mit herzlichem Dank für seinen Rat an den Lektor gemailt.
Bewegung stärkt die Kreativität. Diese Parole bewegte meine Gedanken, auch als sich Tom längst verabschiedet hatte. Meine literarischen Lieblinge kamen mir in den Sinn, allen voran Eichendorffs Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts". Der junge Kerl wird von seinem Vater losgeschickt, damit er endlich etwas für Leben und Beruf lernt. Und als er unterwegs ist, erfasst ihn Reiselust. Sein Leben lang wird er unterwegs bleiben.
Mir fiel Johann Wolfgang von Goethe ein. Der löste eine große Lebenskrise, indem er nach Italien aufbrach. Die zweijährige Tour bezeichnete er als eine "Wiedergeburt", die es ihm ermöglichte, einige seiner bedeutenden Werke zu vollenden. Ludwig van Beethoven, Mark Twain, Theodor Fontane reisten nicht nur nach Wien, den Rhein entlang oder wanderten durch die Mark Brandenburg. Sie folgten pausenlos ihrer Neugier, ließen sich vielleicht körperlich irgendwo nieder, nie aber in Geist und Seele. Nun machten sie alle Station bei mir. Bewegung macht Ideen mobil! Bevor ich meinen nächsten Text anfange, muss ich nun dringend aus dem Haus. Gut, dass ich meine angejahrten Wanderschuhe wiedergefunden habe.