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An einer hinteren Ecke der Wittenberger Stadtkirche befindet sich das sicherlich abstoßendste Stück Kirchenkunst Deutschlands, eine sogenannte „Judensau“. Die Kirchengemeinde hat schon zu DDR-Zeiten die Geschichte dieses Reliefs aufgearbeitet und darunter ein Gegendenkmal errichtet. Später kam eine Informationstafel hinzu. Doch bleibt dieses Werk ein Stein des Anstoßes. Wie sollte es auch anders sein? Die Frage ist nur, ob man es abnehmen oder nicht genau deshalb dort belassen sollte.
Während des Reformationsjubiläums versuchte ein englischer Vertreter der sogenannten messianischen Juden – das ist eine evangelikale Gruppe, die sich der Judenmission verschrieben hat –, per Online-Petition die Abnahme zu erreichen. Ohne Erfolg. Kürzlich wollte ein älterer Herr aus Bonn, der zum Judentum konvertiert ist, per Zivilklage dasselbe erreichen. In erster Instanz wurde dem nicht stattgegeben. Nun hat das Oberlandesgericht Naumburg auch die Berufung abgewiesen.
Mir leuchtet dies ein. Denn ich denke, dass solche „Denkmäler“ an Ort und Stelle bleiben sollten. Sie sollten öffentlich sichtbar sein und zum gemeinsamen Nachdenken und notwendigen Streiten anregen. Dies gilt besonders für den Wittenberg Fall, wo die Kirchengemeinde eine eigene Gedenkgeschichte besitzt, die man achten muss. Das ist eine Auffassung, die mir von einem jüdischen Gesprächspartner bestätigt wurde – obwohl es hierzu bei Juden in Deutschland sicherlich unterschiedliche Meinungen gibt. Allerdings könnte man sich über die Gestaltung dieses besonderen Erinnerungsortes neue Gedanken machen. Vielleicht mit einer aktuellen und erweiterten künstlerischen Intervention? Es würde sich lohnen, darüber nachzudenken.
Anders wäre es natürlich, wenn eine solche Schmähskulptur als Zielpunkt für extremistische Aufmärsche oder ähnliches genutzt würde. Aber das ist hier nicht der Fall.
Vor eineinhalb Jahren habe ich mit der Evangelischen Akademie Loccum eine Tagung über den Umgang mit NS-Relikten in Kirchen veranstaltet. Die Ergebnisse liegen jetzt als Buch vor. Ich habe dabei vor allem zweierlei gelernt:
1. Bei aller berechtigten moralischen Empörung sollte man jeden Fall einzeln betrachten und nüchtern-historisch untersuchen. Nicht immer ist die Lage so eindeutig, wie es scheint. In eine abschließende Entscheidung sollte das moralische Urteil natürlich einfließen, aber nicht allein ausschlaggebend sein. Aspekte des Denkmalschutzes und der Gedenkdidaktik sind ebenfalls wichtig.
2. Entscheidend ist, dass die Entscheidung nicht bloß von außen oder oben, aus Berlin oder dem Internet kommt, per Medienstatement oder von einem Gericht gefällt wird. Das lange, oft mühselige, immer wieder aber auch sehr interessante Gespräch mit den Menschen vor Ort, den Mitgliedern der Kirchengemeinde, wenn möglich mit der jüdischen Gemeinde in der Nachbarschaft ist durch nichts zu ersetzen.
Wenn man sich streitet, hilft gelegentlich der Blick in die Ferne. Denn ähnliche Fragen werden auch anderswo verhandelt. In einem Vorort von Fredericksburg, im US-Bundesstaat Virginia, steckt in einer ansonsten unauffälligen Straßenecke ein Steinblock in der Erde. Vor dem Bürgerkrieg (1861-65) wurden hier Sklavenauktionen abgehalten. Befreite Sklaven erinnerten sich daran, dass Menschen, die zum Verkauf standen, sich auf diesen Stein stellen mussten. Andere haben dies bestritten. Dennoch war dieser Stein im Volksgedächtnis bekannt als „slave auction block“. Irgendwann begann man darüber nachzudenken, was man mit ihm anstellen sollte: Abtransportieren, einlagern, in einem Museum ausstellen? Man hat sich entschieden, ihn an seinem historischen Ort zu belassen und eine erklärende Tafel davor anzubringen.