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Das Boot im Bild hat kein gutes Standing. Längst sind die Fotos überfüllter Schlauchboote oder verrottender Kähne zum Symbol geworden für das massenhafte Leiden von Menschen, die über das Mittelmeer flüchten. So wirkmächtig ist das Bild, dass die Kunstszene einige dieser Boote von den Stränden der Inseln Lampedusa und Lesbos zu Ausstellungsobjekten verarbeitet hat, wie etwa 2017 auf der documenta in Kassel. Ein Boot wurde sogar im Zuge des Reformationsjubiläums als bleibendes und mittlerweile mehrfach beschädigtes Denkmal in Wittenberg ausgestellt. Dort rufen die Wracks beim Betrachter umso größeres Entsetzen hervor, vielleicht gerade weil von allzu vielen ihrer einstigen Passagiere keine Spur mehr bleibt.
Lukas Meyer-Blankenburg
Für Empörung sorgte in diesem Sommer darüber hinaus eine ungleich andere Bootsart, die in den zweifelhaften Ruhm geraten ist, Symbol zu sein. Denn zur klimabewussten Flugscham hat sich nun auch die Schiffscham gesellt. Eine immer breiter werdende Öffentlichkeit geißelt Kreuzfahrtschiffe, deren Sinn wenig mehr ist als der, ihre Passagiere zwischen Mittag- und Abendessen mit spektakulären Aussichten auf historische Altstädte oder natürliche Schönheiten von Venedig bis zu den norwegischen Fjorden zu versorgen, als Schweröl spuckende Umweltsünder.
Sogar die Schienen schimmern rostig in der unerbittlichen Hitze
Fast schon bescheiden im Vergleich zu Glanz und Größe der Riesenkreuzer nimmt sich das Boot des Künstlers Jürgen Wolf auf diesem Bild aus. Entweder handelt es sich hier um ein alterndes Schiffswrack oder aber um ein Boot, das nie fertiggestellt wurde. Jedenfalls sind auf dem Bild sogar die Schienen, die das hölzerne Gerippe zu Wasser hätten gleiten lassen sollen, verwachsen und schimmern rostig in der unerbittlichen Hitze.
Der Name des Bootes will da nicht ganz passen zur trocken-trostlosen Situation, in der es sich befindet: "MS Luther" steht auf dem kleinen Schild an der Reling. Schwer vorzustellen, dass dieser Holzhaufen mal ein stolzes Motorschiff gewesen sein soll. Und auch der Name Luther ist in Zusammenhang mit dem Schiffsverkehr bislang eher selten aufgetaucht.
Die Kirchenoberen haben Luther einer Diät unterworfen
Der Titel, den der Kölner Künstler Wolf seinem Werk verpasst, hat nicht nur das Zeug, längster Titel eines Kunstwerks zu werden, das je in dieser Kolumne vorgestellt wird. Sondern er trägt auch etwas zur Klärung des Sachverhalts bei – mit der Betonung auf "etwas". Er lautet: "MS Luther / Heiliger Bimbam / Sie / Haben Luther / Einer Diät / Unterworfen / Kein Fleisch / Nur Gerippe / MS wie / Meiner Seele / Kein Blähen / Kein Wind."
Ein Schiffswrack als Symbol für einen abgespeckten, ausgehöhlten Reformator. Wobei sich jetzt trefflich streiten ließe, wer für das Abspecken verantwortlich ist. Der Künstler bietet Raum für Deutungen, sein "Sie" bleibt vage. Aus der Bootsperspektive, die auch Luthers eigene sein könnte, hieße das vielleicht: Die Kirchenoberen haben Luther einer Diät unterworfen. Oder gar die Gläubigen? Oder alle zusammen? Luther, der vielfach Unverstandene, dessen Thesen heute nur noch als hohle Phrasen dienen, einem Schiffsgerippe gleich? Eine düstere Bestandsaufnahme ist das, die der Künstler nach 500 Jahren Reformation zieht, die er aber nicht in Zusammenhang mit seiner eigenen Konfession gebracht haben will.
Auf Luthers theologische Impulse aufmerksam machen
Wolf ist studierter katholischer Dogmatiker – eine Theologenart, die sich bisher nicht sonderlich mit Luther-Liebhaberei hervorgetan hat. Doch der Künstler will nach eigenem Bekunden auf Luthers theologische Impulse aufmerksam machen, die er seiner Nachwelt als launiger Tischgeselle in Form des ein oder anderen nachdenkenswerten Satzes hinterlassen hat. Am Tisch des Theologieprofessors ging es mit Sicherheit feuchtfröhlicher zu als auf diesem alten Kahn. So ist der künstlerische Impuls einer, der ziemlich trocken rüberkommt. Hoffnung jedenfalls sieht anders aus.