Vier Tage lang hat sich die Spitze der katholischen Kirche Zeit genommen, um über Konsequenzen aus den Missbrauchsskandalen zu beraten. Papst Franziskus hat ein konsequenteres Vorgehen gegen sexuellen Missbrauch versprochen. "Die Kirche wird nie versuchen, Fälle zu vertuschen oder einzelne Fälle zu unterschätzen und künftig jedem Vorwurf gegen Priester nachgehen", sagte Franziskus. Wenn Missbrauch in der Kirche erfolge, machten sich die Täter zum "Werkzeug des Teufels". Sprecher der Missbrauchsopfer zeigten sich hingegen enttäuscht. Die katholischen Bischöfe rief der Papst auf, eigene Sünden im Umgang mit Missbrauch einzugestehen.
Nils Husmann
Reicht das? Nein, sagen Vertreter von Opferverbänden. Matthias Katsch vom internationalen Opferverband ECA (Ending Clerical Abuse) empörte sich: "Die Rede des Papstes ist der schamlose Versuch, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, ohne sich der Schuld und dem Versagen zu stellen und wirkliche Veränderung anzugehen."
Tatsächlich ist es irritierend, dass der Papst zunächst aufzählte, wo und durch wen es überall zu Missbrauch komme – in Familien, durch Trainer oder Erzieher. Das muss auf Opfer so wirken, als wolle das Oberhaupt der katholischen Kirche die eigene Verantwortung kleinreden. Ebenso vermied es der Papst, vom Zölibat abzurücken. Dabei ist unstrittig, dass vieles in der katholischen Kirche – und nur dort – überhaupt erst die Voraussetzungen für Missbrauch schafft. Der Zölibat kann sexuell unreife Kandidaten anlocken, die mangels Nachwuchs auch nicht abgewiesen werden. Die Einsamkeit der Priester, ihre unangefochtene Sonderstellung, die enge Verbundenheit von Klerikern, ein verquaster Umgang mit dem Thema Sexualität – all das schafft Strukturen, die Missbrauch begünstigen und verdecken.
Manche evangelische Christen mögen sich fragen: Was geht uns das an? Wer gestern die Sendung "Anne Will" verfolgte, wer die Austrittszahlen studiert, kann auf diese Frage nur eine Antwort geben: eine ganze Menge. Die Diskutanten in Talk-Shows differenzieren nicht zwischen katholischer und evangelischer Kirche – und auch das Publikum dürfte dies nicht tun. Hängen bleibt die Doppelmoral einer Institution, die einen geschiedenen und wiederheirateten Mann nicht als Chefarzt beschäftigen will, weil er die Moral verletzt habe – die es aber duldet, dass schuldig gewordene Priester im Amt bleiben.
Auch in der evangelischen Kirche ist es zu Fällen von Missbrauch gekommen. Und auch in der evangelischen Kirche haben Bischöfe Missbrauchsfälle vertuscht; sieht man zu sehr auf die Täter und zu wenig auf die Opfer. Es fehlt an der nötigen Konsequenz, wenn es darum geht, externe Experten zu Rate und Hilfsangebote für Opfer anzubieten. Dennoch: Darin unterscheiden sich evangelische Kirchen nicht von Turnvereinen, Schulen oder anderen Einrichtungen, in denen Missbrauch vorkommt.
Kirche ist dann stark, wenn sie zu den Schwachen steht, wenn sie auf die zugeht, die am Rand steht. Niemand weiß das besser als Papst Franziskus. Die Bilder, auf denen er Strafgefangenen die Füße wäscht, gingen um die Welt und begründeten große Hoffnungen in sein Pontifikat.
Bei den Schwachen sein: Für die evangelische Amtskirche heißt das, vorbehaltlose Solidarität mit den Opfern von Missbrauch zu zeigen, bei Verdachtsfällen mit der Staatsanwaltschaft zu kooperieren und zu kommunizieren statt zu schweigen.