Heiliger Ernst und geballte Lust: Nur gemeinsam machen sie jenen bizarren Kult aus, der zurzeit die Gemüter erhitzt.
Ein Plädoyer für die Leichtigkeit
30.11.2010

Rote Erde oder grüner Rasen. Längliche Rechtecke, durch Linien umfangen, mit einem Kreis und einem Punkt in der Mitte. So liegen sie da, die Plätze, auf denen die Wahrheit ist. Sollten zu einem nicht zu fernen Zeitpunkt außerirdische Wesen die Freundlichkeit besitzen, den Kontakt zu uns zu suchen, werden sie sich fragen, was es mit diesen Plätzen auf sich hat. Der Blick von außen. Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom hat diese fremden Beobachter ins Spiel gebracht, um dem Rätsel eines seltsamen Brauchtums auf die Spur zu kommen. Welchen Zweck haben diese eigenartigen Flächen? "Dienten sie der Religionsausübung? Waren es offene sakrale Räume, in denen die Leere angebetet wurde?"

Mehr als ein Spiel und doch nur ein Spiel, das ist Fußball. Sein vortrefflichstes Kennzeichen besteht gerade darin, dass im Spiel der Unterschied von Spaß und Ernst unterlaufen wird. Zum einen ist das Spiel von heiligem Ernst erfüllt. Zugleich aber kann sich im Spielen ein Heidenspaß einstellen. Robustes Mandat und geballte Lust kommen im günstigsten Fall zusammen. Die Ordnung des ernsten Lebens wird spielend außer Kraft gesetzt und zugleich wird das Spiel mit heftigem Einsatz geführt. Als ginge es um die Meisterschaft der Welt.

Der Weg von der Schönheit zur Brutalität ist kurz

Der Fußball treibt ein Spiel mit dem Unterschied von Ernst und Spaß. Genau deswegen gilt dieses Spiel vielen als sakrosankt, als über jeden Preis erhaben, als unantastbar und unverhandelbar. Ob das Spiel diesen Namen verdient, bei sich selbst bleibt, erkennt der außerirdische Beobachter an folgenden Merkmalen der Spiellust: Die Spannung der Spieler und der Zuschauer wächst, wenn die Entscheidung auf der Kippe steht; sie sind rauschhaft und hingerissen durch die aufblitzende Schönheit unerwarteter Spielzüge; bisweilen kippt das Spiel allerdings in schonungslose Gemeinheit ab, und der Weg von der Schönheit zur Brutalität ist kurz; doch immer regiert die Liebe zum Ball, die Ballverliebtheit rangiert höher als der bloße Ergebnisfußball. Und fällt ein Tor, eröffnet dies eine andere Welt.

Lust, Aufwand und Mühe sind keine Gegensätze mehr: Darin bestehen das Geheimnis und die ungebrochene Faszinationskraft der Ballsportart namens Fußball. Denn der Gegensatz zum Spiel heißt ja gar nicht Ernst, sondern Krampf. Und der wirkliche Gegensatz zum Ernst besteht wiederum nicht im Spaßvergnügen, sondern im Starrsinn und in der Verzweiflung. Beide Gegensätze werden im Fußball aufgehoben. Im Spiel mit dem Gegensatz von Spaß und Ernst liegt der Eigensinn jener merkwürdigen Religionsausübung, besteht die Magie jener sonderbaren Kultplätze, die überall auf dem Globus anzutreffen sind. Wer hier Religiosität vermutet, liegt richtig. Um unsere protestantischen Grenzlinien zwischen Ernst und Ausgelassenheit, Armut und Luxus herabzusetzen, haben die Götter das Spiel erfunden. Es ist mehr Fastnacht und weniger Fastenzeit.

Fehlen allerdings Leichtigkeit und heilige Lust, ist die Seele des Spiels empfindlich verletzt. "Das nächste Spiel ist immer das schwerste", heißt es. Gerade in Deutschland lasten auf dem Ritual Bedeutungsschwere, Tiefsinn und Humorlosigkeit. Ja mehr noch: Es drücken Weltenlast, Weltverlangen und Weltverlust in Zeiten der Globalisierung. Eine Nummer kleiner geht anscheinend nicht. Ein Schritt zurück auf die Ebene des Vorletzten wäre ein Sakrileg, wenn die Rede auf Fußball kommt. Hier ist der letzte Ort, an dem ein "Spiritualgermanismus" (Stephan Wackwitz) gewichtige Sinnbilder setzen darf. Nur zwei Tage hat es gedauert, um die Leichtigkeit und den Optimismus von Klinsmann in eine geschichtsträchtige Landschaft aus lastender Symbolik zu versetzen. Wo bleibt die Leichtigkeit?

Fußball ist ein bedeutungsschweres Zeichen. Freilich besteht das Besondere an diesem Zeichen darin, dass der heilige Ernst, der sich hier bekundet, mit schöner Regelmäßigkeit in Komik umkippt. So lässt sich bei einer Figur wie Franz Beckenbauer gar nicht entscheiden, ob es sich um Tiefsinn, schlicht um Unsinn oder nur um Schwachsinn handelt, wenn er den öffentlichen Raum mit seiner bescheidenen Wortartistik überflutet. Der Kaiser spielt Kanzler und Kasper zugleich. Genau in dieser Spaßfigur offenbart sich aber wider Willen das Geheimnis des Rituals. Jederzeit kann das Spiel in die eine oder in die genau entgegengesetzte Seite umkippen. Ein Spiel kann sich steigern in einen wahren Spielrausch, ein Spiel kann versinken in rohes Kampfgeschehen. Fade Spiele sind keine Spiele.

"Der Fußball ist die wichtigste unwichtige Sache der Welt", meinte Papst Wojtyla

Mitunter bleibt unentscheidbar, wer hier eigentlich mit wem spielt. Spielt der Spieler mit dem Ball oder spielt der Ball mit dem Spieler? "Der schnellste Spieler ist der Ball", sagt der niederländische Nationalspieler Johan Cruyff. In den magischen Momenten werden Raum und Zeit überwunden, sucht sich der Ball den richtigen Spieler, werden die Spieler zu Statisten des Balles. Wenn sich das Spiel von seiner schönen Seite zeigt, dann ist es eine Einladung zum Glück, dann kann ein Tor eine Offenbarung sein, dann finden Leidenschaft und Ernst lustvoll zueinander. Spielen macht Spaß. Und jeder, der sich einmal in dieser Sportart geübt hat, kennt diesen Traum vom leichten Spiel. Und damit zugleich auch den Alptraum von einem Spiel.

Es gebe Wichtigeres im Leben, so kriegten wir schon früher zu hören, wenn wir uns das Schuhwerk schnürten, um zum wiederholten Mal in der Saison zum schlechterdings entscheidenden Spiel aufzubrechen. Für uns fand das wirkliche Leben auf diesem Platz statt, hier lagen Leid und Freude, Kampf und Passion, Begeisterung und Wahrheit. Dabei wussten wir noch nicht, dass der unvergessene Papst Karol Wojtyla uns einen guten Ball zugespielt hatte, ein Paradox, genauso launisch wie das Spiel selbst: "Der Fußball ist die wichtigste unwichtige Sache der Welt." Und doch können wir vom Spiel und von der Freude am Spielen einiges lernen, gerade in Zeiten der Globalisierung: Wir kommen besser zum Ergebnis, wenn das Spiel frei fließt. Ein Ball kann auch mal anders gespielt werden, denn es gibt immer auch andere Wege.

Es mag sein, dass der Fußball hoffnungslos überlastet ist, überbewertet, übersendet. Alles, nahezu alles ist über ihn gesagt. Schon jetzt sind wir übersättigt. Und wir beobachten einen heißlaufenden Sportkomplex, bei dem Geld zum Systemproblem wird. Der Fußball bedroht sich selbst. Kleiner Trost: Es gibt ein Leben nach der Weltmeisterschaft. Vielleicht spielen wir ja in Zukunft massenweise Schach. Auch der Fußball wird verschwinden. Aber ein unzerstörbares Geheimnis wird bleiben: das Spiel selbst.

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