Jeder, der sich mit unserer Sprache beschäftigt, kennt Martin Luthers "Sendbrief vom Dolmetschen" oder zumindest einige Kernsätze: dass gutes Übersetzen verlange, dem Volk "aufs Maul zu sehen", bildhaft zu sein, nicht am Wortlaut zu kleben und den einfachen Ausdruck dem gesuchten vorzuziehen. Und dass man mitunter neue Begriffe erfinden müsse, wenn es für das Original kein treffendes Gegenstück in der eigenen Sprache gebe.
Selbst das blindeste Huhn könnte nicht umhin
Es gibt Steilvorlagen, die darf man nicht verwandeln. Das hier ist so eine. Denn die Parallelen zwischen Luthers Forderungen und der Sprache von "Bild" sind so offensichtlich, dass hier sei der Superlativ erlaubt selbst das blindeste Huhn nicht umhin könnte, den Schnabel auf dieses Korn zu setzen. "Bild" ist der Dolmetscher der Politik, der Verbände, von Ausschüssen und Verwaltungsjuristen. All die "portablen Altersrückstellungen", "Konvergenzklauseln" und "morbiditätsorientierten Strukturausgleiche" übersetzt "Bild" so ins geliebte Deutsch, wie es Luther empfahl: verständlich, emotional, bilderreich, schöpferisch.
Wir schauen, um mit Axel Springer zu sprechen, dem Volk dabei gern aufs Maul, reden ihm aber nicht nach dem Mund. Denn wir wollen zwar volksnah sein und eine Sprache sprechen, die das Volk versteht. Es ist aber durchaus fraglich, ob wir auch dessen Begrifflichkeiten übernehmen sollten.
In Köln weigerten sich Hauptschüler zu lernen, was Rosen, Tulpen, Gänseblümchen und ebenso was Amsel, Fink, Meise, Spatz sind. Zu Hause würde ohnehin kaum gesprochen oder kaum deutsch, und für den Rest des Alltags reiche "Blume" und "Vogel". Songtexte populärer deutscher Rapper der sogenannten Aggro-Szene befremden weniger durch die Fixierung auf Sexual- und Gewaltfantastereien als durch die Abwesenheit von Syntax und grammatikalischen Regeln: Akkusativ und Dativ gehen wild durcheinander und das Geschlecht ist, wiewohl häufig besungen, bei Substantiven weitgehend unbekannt: die Auto, das Nutte, den Stadt.
Überall Babel
Gleiche Erfahrungen mit Chatrooms, Onlineforen und Nachmittags-Talkshows: überall Babel, wenn auch in einer Sprache. Der Variantenreichtum des Deutschen, gefördert durch die vergleichsweise freie Stellung der Satzteile und die Bojenfunktion der Artikel, ist dahin und damit auch Nuancierungen, Redefiguren, Subtext. Auch in unserer Sprache herrscht nun, wenn überhaupt, der Terror von Subjekt, Prädikat, Objekt, allerdings unter Verzicht auf Konjugation und Deklination.
Volkes Maul ist viel zu oft eine Simpelversion der Kunstsprache von Erkan & Stefan: die Angleichung der Schriftsprache an das gesprochene Idiom der Unterschicht ohne Rücksicht auf Wurzel, Stamm, Interpunktion. Auf der Onlinekommentarseite eines Rap-Labels heißt es: "Allta gangstarappa sinja sowat von geil!" Die Antwort: "Schur, echt supi-spaz lider." Noch ist vieles parodistisch gemeint, aber nicht alles. Bei immer mehr Beiträgen verschwimmen Regel und Brechung, wird die Parodie zum gültigen Standard.
SMS-Kürzeln und Emoticons
Dabei ist jene Mischung aus lautmalerischem Gestammel, SMS-Kürzeln und Emoticons, den piktogrammatischen Statthaltern einer Gefühlswelt, die von und für sich buchstäblich keinen Begriff mehr hat, nicht allein auf Chatrooms und SMS beschränkt. Auch Leserbriefe, die wir erhalten, geben ein klares Bild: Orthografisch korrekt sind meist nur Briefe, die aus den neuen Bundesländern stammen oder von älteren Leuten aus dem Westen also von Personen, die nicht dem Einfluss der Kultusministerkonferenz, der GEW oder reformwütiger Lehrerverbände unterworfen waren. Was hingegen von jüngeren Leuten aus Bremen, Hamburg, Berlin oder Nordrhein-Westfalen kommt, ist oft nur näherungsweise verständlich, nicht zuletzt bedingt durch weitgehenden Verzicht auf Interpunktion oder Groß- und Kleinschreibung: Alles Kauderwelsch und Rhabarber, Rhabarber, auch wenn kaum einer der Absender wissen dürfte, wie man das eine oder andere schreibt.
Doch ist das kein Anlass für Späße. Denn die orthografischen Mängel weisen immer häufiger auf massive Probleme, einen Text inhaltlich zu erfassen. Selbst einfachste Kommentare oder Meldungen werden oftmals in einer Weise missverstanden, die auch uns vor grundsätzliche Darstellungsfragen stellt. Der Erfolg von Emoticons und Piktogrammen, also der Rückgriff auf Verständigungstechniken, deren man sich üblicherweise im Umgang mit Urwaldvölkern bedient, ist ein Zeichen für diesen Befund, für die voranschreitende Analphabetisierung der deutschen Gesellschaft.
Diese Entwicklung stellt nicht nur die elterliche Erziehung, sondern vor allem die Leistung der Schulpolitik und der Lehrerschaft infrage. Ganze Jahrgänge versinken im Babeltum, trotz höchster Ausgaben für Bildung. Für die Betroffenen, die auch nach acht Jahren Schule beim Lesen noch die Lippen bewegen müssen, heißt das: keine Ausbildung, Hartz IV, bestenfalls Hilfsarbeiter. Welche auch politischen Aggressionen Menschen entwickeln, die keine Aussicht auf berufliche Selbstfindung, auf das Glück der eigenen Leistung, auf Verantwortung und Familie haben, mag man sich nicht vorstellen. Dass sie zudem Opfer genau derjenigen Leute wurden, die jahrelang die "soziale Frage" im Munde führten, ist eine der zynischen Volten der Geschichte. Keine Generation hat die Chancen der einfachen Leute so nachhaltig ruiniert wie diejenigen, für die Chancengleichheit in erster Linie darin bestand, schulische Anforderungen zu senken. Wer aus Ober- oder Mittelschicht stammt, wer auf die dortigen Ausdrucks- und Differenzierungsmöglichkeiten zurückgreifen kann, schafft heute wie selbstverständlich das Abitur; wer dagegen im nunmehr sogenannten Prekariat geboren wird, hat kaum eine Chance, und zwar unabhängig von Intelligenz und Fleiß.
Volkes Maul ist nur noch ein Tümpel
"Wir sind Papst", titelte "Bild" zur Wahl von Benedikt XVI. und schuf damit eine Schlagzeile, die sofort in den allgemeinen Sprachschatz aufgenommen und immer neu variiert wurde. Ihr Erfolg beruhte auf der fröhlichen Übertreibung, mit der sie Verblüffen, Freude und landsmannschaftlichen Stolz erfasste aber auch auf dem bewussten Verstoß gegen die Grammatik: Erst die Regelverletzung, das "falsche" Deutsch, gab der Zeile das Spielerische, aber auch hohe Aufmerksamkeit. Noch sind solche Sprachspäße möglich, auch für ein Massenpublikum. Doch wenn, wie gegenwärtig, der Sinn für Syntax und Grammatik schwindet, kommen nicht nur solche Spielereien an ihr Ende, sondern sehr viel mehr. Volkes Maul ist dann keine Quelle mehr, sondern nur noch ein Tümpel, aus dem sich nichts schöpfen lässt.