Die Wahrheit ist konkret ­ sagt Lenin, sagt Hegel, sagt Augustinus. Aber was ist konkret? Das lateinische Wort "concretus" übersetzt man mit "zusammengewachsen". Hilft uns das wirklich weiter? Die Wahrheit ist zusammengewachsen? Etwas abstrakt das Ganze. Obwohl "abstrakt" doch landläufig als das Gegenteil von "konkret" gilt.

Für den Dackel gibt es ummer einen Grund zu bellen

Der Dackel unserer Nachbarn ist konkret. Vor allem dann, wenn man ausschlafen will, bellt das Tier bis zur Heiserkeit. Einen konkreten Grund hat das immer. Für den Dackel. Die Zeitungsausträgerin um halb sechs. Eine Mutter mit Kinderwagen um halb acht. Der Briefträger um neun. Daraus ist abzuleiten ­ jetzt wird es abstrakt ­, dass die Wahrheit des Dackels immense Lautstärke bei einer gewitterten Gefahr für sein Revier ist. Nun ist der Dackel zweifelsfrei zusammengewachsen. Sonst wäre er kein lebendiges Wesen. Und sein Gebelle wächst für uns zusammen mit den üblichen Albträumen am Samstagmorgen. Der Dackel unserer Nachbarn ist der wahre Albtraum und der konkrete auch.

Philosophisches Denken ist ein herrliches Spiel. Es ändert zwar nichts an der Wirklichkeit, aber man hat das sehr konkrete Gefühl, die Wahrheit einmal anders gesehen zu haben als sonst. Ich nutze diese Technik gerne, wenn ich mich nicht ärgern will. (Ich habe in dieser Kolumne schon mal wissen lassen, dass ich mich eigentlich gar nicht aufregen könne. Was somit als unwahr bewiesen ist.)

Die Motive des Dackels beim Bellen zu kennen, sagt die Psychologie, sei alleine schon heilsam, weil entlastend. Ich wüsste dann, dass ich nicht die Zielscheibe böser Mächte bin, die mich am Ausschlafen hindern wollen. Das stimmt abends, wenn ich unseren Gästen erzähle, was am Morgen geschehen ist. Und es stimmt jetzt, da ich es gerade aufschreibe. Morgens um halb sechs und dann wieder um halb acht heilt dieses Wissen rein gar nichts.

Für mich ist der Dackel ein Unruhestifter. Er nervt.

Die wahre Größe des Dackels kann ich an der konkreten Wirkung seines Alarmgebens auf meine Lebensgewohnheiten allein nicht messen. Für mich ist er ein Unruhestifter. Er nervt. Für meinen Freund Johannes liegt die wahre Bedeutung des rauhaarigen Zeitgenossen im Nachbarhaus in seiner Zahnspange. Johannes ist Tierarzt und hat bei dem Dackel eine Kieferfehlstellung diagnostiziert. Er hat ihm zur Therapie das Drahtgestell in die Schnauze gebastelt und dafür schon einige hundert Euro abgerechnet. Das sind wahrlich konkrete Einnahmen, an denen sich Johannes und seine unmündigen Kinder sehr freuen.

Für die Kinder unserer Nachbarn ist der Familiendackel ein Freund ­ solange sie ihn nicht Gassi führen müssen. Das muss Norbert tun, ihr Vater. Wir treffen uns oft mit unseren Hunden kurz vor Mitternacht auf der Straße, wenn unsere Stadtverwaltung zur Energieersparnis die Laternen gerade runtergedimmt hat. Viel reden können wir nicht. Weil unsere Hunde nichts miteinander anfangen können. Unserer ist ein junger Rüde, Norberts Dackel eine Dame im reifen Alter von zehn Jahren. Unser Hund immerhin schläft so lange wie wir und bellt wenig.

Norbert und ich lassen es bei einem knappen Gruß, wenn es hoch kommt, sagen wir "kalt heute, da schickt man eigentlich keinen Hund auf die Straße" oder "nass heute". Die ganze, reine, konkrete Wahrheit. Wir warten, bis unsere Viecher ihrem Stoffwechsel genügt haben, und trotten zurück in die Wärme unserer Behausungen, schälen uns aus den Mänteln, nehmen den Hunden das Halsband ab. Ich weiß nicht, was Norbert nun tut. Wahrscheinlich Zähne putzen. Ich denke über die Wahrheit nach, einen konkreten Hund zu haben. Und über die Rolle der Familienväter in einem Hundehaushalt. Und ich träume für einen Augenblick von einer Welt ohne Hunde. Dann streichel ich den meinen und hoffe, dass der Dackel morgen früh eine Ausnahme macht. Sind einfach liebe Tiere. Echt wahr.