Weg damit, in den Papierkorb! Und zwar ungelesen. Gift darf man nicht wirken lassen, sagt Susanne Breit-Keßler
15.11.2010

Wütend schleudert Jens den Brief zu Boden. Zum vierten Mal innerhalb weniger Wochen behauptet ein Unbekannter, dass seine Frau Linda ihn betrügt. Jedes Mal versetzen ihm die bösartigen Zeilen einen richtigen Schlag. Jens leidet wie ein Hund, weil er bei dem anonymen Schreiber nicht nachhaken kann und einfach nicht weiß, was diesen Menschen treibt, solchen Unsinn zu verfassen und ihn zu verletzen. Jens vertraut Linda. Es ärgert ihn, dass ihm dennoch unwillkommene Gedanken durch den Kopf sausen: War sie nicht in letzter Zeit ein bisschen abwesend? Hat sie nicht ein paar Abende zu viel mit Freundinnen verbracht?

Manchmal wurmen einen anonyme Vorwürfe, gerade deswegen, weil tatsächlich nichts daran stimmt - sie aber mitten hinein treffen in das, was einem wichtig ist. Man wälzt sich nachts schlaflos im Bett und überlegt, warum derjenige oder diejenige einen so kränken will. Meine eiserne Devise: Anonyme Briefe landen ungelesen im Papierkorb oder werden im Mail-Briefkasten sofort gelöscht. Schwieriger wird es, wenn jemand im Internet über einen herfällt - in einem der vielen Chatrooms, auf sogenannten Nachbarschaftsseiten oder Foren, in denen intimste Dinge ausgeplaudert und unter Decknamen sagenhafte Lügen über andere aufgetischt werden.

Natürlich kann man sich von diesen Seiten fernhalten. Manchmal nützt das nichts - man wird dort trotzdem auf das Übelste denunziert. Gemeinheiten können Jugendliche bis zum Selbstmord treiben, weil es kaum jemand erträgt, erbarmungslos niedergemacht zu werden. Eltern sollten wissen, wo ihre Kinder im Internet surfen und was sie dabei erleiden. Sie müssen Söhnen und Töchtern zu einem gesunden Selbstbewusstsein verhelfen, damit sie mit feigen Angriffen fertig werden. Sie sollten verstehen: Wer sich nicht zu seinem Standpunkt bekennt, der nimmt sich selber nicht ernst - man braucht ihn oder sie keiner Beschäftigung für wert erachten.

In der Bergpredigt sagt Jesus dezidiert: "Wer sagt: Du Narr! , der ist des höllischen Feuers schuldig." (Mt 5,22) Es ist würdelos, einem anderen Menschen keine faire, offene Auseinandersetzung zu gönnen - ihm höflich unter vier Augen zu sagen, was einen stört. Wer im Internet beleidigt wird, kann manchmal falsche Behauptungen "flaggen", als falsch kennzeichnen - irgendwann verschwinden sie vielleicht. Man kann sich auch mit "screen shots", Bildschirmkopien der verbalen Internetattacken, beim Betreiber von Internetseiten beschweren. Oder einen Anwalt einschalten: Niemand hat das Recht, einen aus reiner Häme heraus namenlos anzugreifen.

Wer sich leichtsinnigerweise anonyme Schreiben zu Gemüte geführt hat und nicht schnell mit ihnen abschließen kann, sollte zu jemandem gehen, dem er vertraut. Gemeinsam lassen sich Bosheiten besser bedenken. Anschuldigungen gegen Partner und Familie? Da sollte man in sich hineinhorchen und auf die eigene Stimme hören, statt fremdes Gift schleichend wirken zu lassen. Man könnte so ein Schreiben auch gemeinsam zerfetzen, verbrennen oder eben löschen: als Symbol dafür, dass man sich von so etwas nicht anrühren lässt. "Gar nicht erst ignorieren", ist in solchen Situationen tatsächlich der richtige Wahlspruch.

Dann haben anonyme Schreiber das Gegenteil erreicht von dem, was sie wollten - nämlich einen gelassenen Menschen, den die Anwürfe völlig kaltlassen. Manchmal haben nämlich böse Absichten auch etwas Gutes: Man besinnt sich neu auf die eigenen Gefühle und weiß, dass man den liebsten Menschen vertrauen, dass man sich wirklich blind auf sie verlassen kann.

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