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"Ich kann nicht mehr", sagt Christine. Sie sitzt bei Tina am Küchentisch. Wieder einmal hat Christines Mutter angerufen und ihr Vorwürfe gemacht. Warum bist du immer noch nicht verheiratet? Du hättest studieren sollen! Was ist das für ein Job? Christine, die als Programmiererin arbeitet, muss sich jedes Mal überwinden, den Anruf anzunehmen, wenn sie die Nummer ihrer Mutter auf dem Display sieht.
Sie möchte gerne, was sie in Kindertagen gelernt hat: Vater und Mutter ehren. Aber ihre Mutter hat Christine mit ständigen Sticheleien, mit Lieblosigkeit das Leben schwergemacht. Der Vater hat es nicht geschafft, Christine zur Seite zu stehen, als sie noch ein Kind war. Er wollte es sich mit seiner Frau nicht verderben. Sie hat ihn abgestraft, wenn er für seine Tochter Partei ergriff. Eine harte Frau, für die Zärtlichkeit ein Fremdwort ist.
Christine glaubt, dass die unerbittliche Strenge der Mutter schuld ist an ihren eigenen gescheiterten Beziehungen. Es gelingt ihr nicht zu lieben. Tina nimmt Christine, die ganz starr ist, in den Arm. "Christine", sagt Tina freundlich, "du kannst nicht die ganze Verantwortung für dein Leben bei deiner Mutter abladen - ganz gleich, wie sie mit dir umgegangen ist. Du musst deine Probleme selber bearbeiten." Christine wehrt ab.
"Meine Mutter", sagt sie, "hat mir meine Kindheit verdorben. Nie ein gutes Wort. Immer bloß: Lass mich machen, das kannst du sowieso nicht. Sie hat mich nie geliebt! " Das geht ein paar Stunden lang. Gegen Ende des Abends ahnt Christine doch, dass sie mehr tun muss als klagen. Die beiden Frauen finden im Internet unter Kirche und Diakonie verschiedene Einrichtungen, die professionelle Beratung anbieten, dazu Adressen von Psychoanalytikern. Gleich morgen, nimmt sich Christine vor, wird sie dort anrufen.
Es dauert dann zwar doch noch ein paar Tage, aber Christine klappert eine Adresse nach der anderen ab, um die richtige Beraterin für sich zu finden. Ein bisschen leichter ist ihr ums Herz - jetzt, wo sie nicht mehr bloß reagiert, sondern selbst handelt. Nach ein paar Monaten, die Beratung ist ganz schön anstrengend, verabredet sich Christine mit ihrer Mutter. Sie hat keine Angst vor der Begegnung, aber ein klein wenig Sorge, dass der Nachmittag wieder so endet wie viele zuvor: mit Streit und Vorwürfen.
Christine erzählt, wie es ihr geht, antwortet auf Fragen ihrer Mutter manchmal mit einer einfachen Gegenfrage und bewegt sie mit sanftem Druck, von sich zu sprechen. Auf einmal, der Nachmittag ist längst vorbei, bricht es aus Christines Mutter heraus: Sie erzählt von ihrer eigenen Kindheit, den vielen Geschwistern, für die sie verantwortlich war, von Prügeln, die sie bekommen hat, wenn die Kleinen nicht folgten. Vom Vater, der sich zu ihr ins Bett legen wollte und dem sie nur durch Flucht aus dem Elternhaus entkam.
Christine kann kaum fassen, was sie alles zu hören bekommt. Was ihre Mutter durchgemacht hat - schrecklich! Trotzdem löscht ihr Leid Christines Erfahrungen nicht aus. Aber die Tochter beginnt, in Ansätzen zu verstehen, warum die Mutter so geworden ist. Und die Mutter ahnt, wie ihre geheim gehaltene Geschichte die der Tochter geprägt hat. Nichts ist gut. Noch lange nicht. Aber die beiden versprechen sich, ehrlich weiterzureden. Sich nichts zu ersparen von dem, was sie erlebt haben und fühlen.
Christine spürt: Meine Mutter ehre ich, wenn ich mit ihr ehrlich bin. Wenn ich ihr meine Wahrheit gönne, so wie sie mir die ihre - auch wenn das schwer ist. Und sie freut sich vorsichtig auf das nächste Wochenende.