Wenn das Leben doch tatsächlich ein Spiel wäre! Am besten ein Fußballspiel. Ich als anerkannter Tor wünschte es mir sehnlichst. Und wenn schließlich der Videobeweis in unserem gesamten Alltag Fuß fasst, wird unser Dasein eine runde Sache. Die Richtig-oder-falsch-Logik soll im Schwimmbad gelten, auf dem Markt, am Tresen in der Kneipe – überall. Was der große George Orwell in seinem wunderbaren Buch "1984" in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als Utopie eines totalitären Staates beschrieben hat, durchdringt unsere Wirklichkeit bereits tiefer, als viele glauben: Big brother is watching you. Der große Bruder Google Maps zum Beispiel weiß per Mini-Cam und Handy längst, wohin ich unterwegs bin. Und am Tempo meiner Reise erkennt er: Mein kleiner Kunde, du fährst mit dem Rad.
Der sogenannte Videobeweis verdirbt alles
Solche Gedanken überwältigen mich, wenn ich wahrnehme, wie die Kultur des Perfektionismus aus einem spektakulären Fußballspiel widerlichen Regelernst macht. Der sogenannte Videobeweis mag – rein theoretisch – für Gerechtigkeit sorgen, praktisch verdirbt er alles. Minuten dauert es, bis der Schiedsrichter nach seinem Pfiff überprüft hat, ob er einen Fehler gemacht hat. Dann stellt sich heraus, dass auch der Videobeweis unvollkommen ist. Die Position der genutzten Kameras mag zwar visuelle Wahrheit zulassen, aber keine erlebte.
Arnd Brummer
Das Spiel gehört seit Urzeiten zu den Dingen im Leben, die gerade nicht den Prinzipien logisch begründeter Ernsthaftigkeit entsprechen. Der hier schon mehrfach zitierte Religionssoziologe Peter Berger zählt es neben der Liebe, der Musik und dem Humor zu den "Spuren der Transzendenz" in der irdischen Wirklichkeit. Im Spiel kann das Glück dem Schwachen helfen, den Starken zu besiegen. Um Betrug und Heimtücke zu vermeiden, gibt es Spielregeln. Und ein sogenannter Unparteiischer hat darauf zu achten, dass sie eingehalten werden. Dieser Schiedsrichter soll für Fairness sorgen. Aber den Ernst des Lebens mit juristischer oder mathematischer Pedanterie auf dem Spielfeld durchzusetzen, löscht den Kitzel, den gerade jene suchen, die ein Fußballspiel als Urlaub vom Alltag begreifen wie ein Konzert oder einen Spielfilm.
Ein Spiel, das immer wieder unterbrochen wird, weil ein Videoassistent aus einem weit entfernten Büro signalisiert hat, dass eine Entscheidung nicht stimme, verliert seine choreographisch-dramaturgische Qualität. Es rutscht aus der Welt von Kunst und Spektakel, in die es als Schwester von Konzert, Theater und Gottesdienst gehört. Es verliert seinen atmosphärischen Charme, der weit über das Geschehen auf dem Platz hinaus wirken kann. Etwa wenn Tage, Monate oder Jahre später noch immer über Tore, Abläufe und – ja, auch – Fehlentscheidungen in Kneipen oder Wohnzimmern diskutiert wird.
Demut und Respekt statt Videobeweis!
Das Wembley-Tor im WM-Finale 1966, das Deutschlands Niederlage gegen England einleitete, beschäftigt bis heute die Gemüter. War der Ball drin oder nicht? Mit 2:2 waren die beiden Teams in die Verlängerung gegangen. Dann traf Geoff Hurst die Unterkante der Torlatte. Zunächst entschied der Schiedsrichter, dass es kein Tor gewesen sei, ließ sich aber von seinem Linienrichter umstimmen. England schoss noch ein weiteres Tor und ge wann. Dem deutschen Fußball und der Elf von 1966 hat die wahrscheinliche Fehlentscheidung nicht geschadet. Bei ihrer Rückkehr in die Heimat wurde die Truppe des Bundestrainers Helmut Schön umjubelt und gefeiert. Man bezeichnete sie als "wahre Weltmeister". Der Trainer selbst urteilte: "Natürlich wären wir gern Weltmeister geworden. Aber wir sind auch mit dem zweiten Platz zufrieden." Demut und Respekt statt Videobeweis! Im Spiel kann das Glück dem Schwachen helfen.
Videobeweis
Der Artikel geht davon aus, dass Fußball irgend etwas mit Spiel und Sport zu tun hätte. Dabei ist es doch klar, dass der Fußball, bei dem der Videobeweis zum Einsatz kommt, nichts aber auch gar nichts mit Sport oder Spiel zu tun hat. Einfach nur Kommerz.
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