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Ein deutscher Politiker sagte kürzlich, befragt nach seinem Lebenstraum, er würde gerne einmal acht Tage ohne Bewachung mit seiner Frau Urlaub machen ohne Zeitung und Fernsehen, vor allem ohne Telefon. Ein bescheidener Traum, aber wahrscheinlich nicht leicht zu verwirklichen. Manch einer, weniger prominent und dadurch eher ungefährdet, möchte lieber ein Jahr in Indien verbringen, eine Trekking-Tour durch Nepal machen oder kreuz und quer durch die USA reisen. Natürlich gehören auch der Bau eines Eigenheims, die Vorstellung vom Traumberuf und von der ganz großen, umwerfenden Liebe zu den unzerstörbaren Lebensträumen.
Einige dieser Lebensträume lassen sich gut verwirklichen, andere müssen warten. Manches bleibt für immer ein Traum. Wenn ich an meine eigenen Visionen von einem englischen Landhaus am See mit offenem Kamin, Bibliothek und Rosengarten samt Labrador und Golden Retriever denke, dann weiß ich, dass sie nie Realität werden. Ich erfreue mich trotzdem an den Bildern und mache ab und zu eine Phantasiereise in mein Traumhaus, höre das Prasseln der Buchenscheite, sehe mich in einem Ledersessel lesend, zu meinen Füßen die Hunde, die zuvor mit mir durch den Garten getollt sind. So ein Tagtraum kann durchaus erfrischend sein und einen gestärkt ans Werk gehen lassen.
Was aber geschieht, wenn der Lebenstraum zu verwirklichen ist unter großen Opfern? Da ist die Chance, zu tun, was man immer wollte: Ein Hausbau etwa scheint durchaus möglich, wenn das Paar gewisse Risiken eingeht. Ist das nicht eine gute Investition in die Zukunft? Oder es begegnet einem die einmalige Liebe. Sie zu leben bedeutet schmerzliche Trennungen und Menschen, die verletzt zurückbleiben aber es ist eben die große Liebe, die niemals wiederkehrt. Wozu noch den Verstand einschalten, warum nicht einfach alles drangeben: Geld, Beruf, die bestehende Partnerschaft? Leben ist immer lebensgefährlich, meinte Erich Kästner zutreffend.
Ein lateinischer Spruch aus dem Mittelalter sagt: "Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!" "was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende." Diese Einsicht stammt aus der Bibel, in der es knapper heißt: "Was du tust, bedenke das Ende." Damit ist schon gesagt, dass man Träume besser nicht besinnungs- und verantwortungslos in die Realität umsetzen sollte. Es liegt kein Segen drauf, wenn man seine Träume auf Kosten des eigenen Lebens oder der Familie, also auf den Trümmern der Seelen anderer verwirklicht. Und: Mancher Lebenstraum ist nur schön, solange er geträumt wird. Wird er Wirklichkeit, wird er zur bitteren Enttäuschung.
Der verbissen angestrebte Topjob erweist sich als ruinös für die Gesundheit und zwingt zu unmäßigem Verzicht auf Freizeit. Mit dem Haus hat man sich total übernommen, es wird versteigert. Die spontan angetretene Reise wird zum monatelangen Horrortrip, und die große Liebe ist nicht alltagstauglich. Natürlich, man hatte sich alles ganz anders vorgestellt. Aber Leidenschaft ohne Verstand, der Wille, den eigenen Lebenstraum auf Biegen und Brechen durchzusetzen, führt manchmal direkt, gelegentlich auch etwas später in den Abgrund. Es ist einfach vernünftiger, die Folgen des eigenen Vorhabens sorgfältig und einfühlsam abzuschätzen.
Umgekehrt kann es Menschen kaputtmachen, wenn sie ihre Träume oder den einen großen Traum nicht verwirklichen. Als ich schwer krank war, habe ich mich durch Bücher "gefressen", in denen mögliche psychische Ursachen organischer Leiden bedacht werden. Es ist bitter, wenn ein Mann erst als Krebspatient anfängt, Geige zu spielen, obwohl er ein Leben lang davon geträumt hat, Musik zu machen, statt die Firma des Vaters zu übernehmen. Auf dem Sterbebett entstehen Bilder, die Menschen liebend gerne schon früher gemalt hätten. Zerstörerische Beziehungen werden manchmal aufrechterhalten, bis einer buchstäblich in die Knie geht und endgültig zusammenbricht. Erst das Leiden macht offenbar, woran es einem mangelt.
Aber man muss nicht krank werden. Es reicht, wenn einer unglücklich ist, weil er für den Lebenstraum nichts dreingeben, auch nichts aufgeben will. Wer so zaghaft ist, tut sich selber nichts Gutes und anderen auch nicht. Der ungarische Freiheitspoet Sándor Petöfi schrieb im 19. Jahrhundert: ". . . immer waren Schwestern: Tyrannei und Feigheit." Wer den Mut nicht aufbringt, zu träumen und seinen Traum lebendig werden zu lassen, der betrübt und bedrückt auch seine Nächsten. Wer kennt sie nicht, die ewig unzufriedenen, nörgelnden Menschen mit den tiefen Falten der Bitterkeit im Gesicht, die nie den Mumm aufgebracht haben, etwas zu ändern an ihrem Dasein. Sie lassen ihre Umwelt spüren und büßen, was sie selber versäumten.
Heutzutage wird viel davon gesprochen, dass diese Gesellschaft aus Egomanen bestehe, die nur um sich selber kreisten. Mir kommt es eher so vor, als würden viele Menschen ihren Traum vom Leben noch gar nicht kennen, nicht wissen, was sie brauchen, um wirklich zufrieden zu sein. Jeder steht lebenslänglich in der Spannung, Träume zu verwirklichen oder aus guten Gründen auf sie zu verzichten. Glücklich der Mensch, der seinen Traum vom Leben kennt und weiß, was er braucht und seien es die kleinen Fluchten, die entrückten Spielräume, die er aufsucht, um vergnügt bei sich selbst zu landen.
Das meinen Leserinnen und Leser
1998 gab ich meine Stelle als Sekretärin auf. Bestärkt von denen, die bei Ausstellungen bedauerten, dass ich mein Talent nicht vollends einsetzte. Ich erlebte in der Folge eine ungeahnte Schaffenskraft. Aber nun zur Realität: Trotz des Einsatzes bringt die bildhauerische Arbeit nicht so viel ein, dass das Leben davon zu bestreiten wäre. Zwischenzeitlich verlor mein Mann seine Arbeit. Die Verzweiflung lässt mich nachts häufiger nicht schlafen, aber selbst da tauchen in meinem Kopf neue Gestalten auf, die unbedingt auf diese Welt geholt werden wollen. Soll mich das bestärken, bei meinem Tun zu bleiben?
WILMA KLOIBER, 50 Jahre,
Hohenlinden
Früher habe ich den Rucksack gepackt und bin auf blauen Dunst losgefahren. Mit zwei Ausbildungen als Industriekaufmann und Buchhändler hätte ich immer einen Job gefunden, und im Notfall wären meine Eltern eingesprungen. Heute kann ich mir das nicht mehr erlauben, wegen meiner Tätigkeit und wegen meines Alters. Nach Tibet bin ich nicht mehr gekommen.
FRANCOIS RAMLAU, 55 Jahre, Berlin
Meine Mutter hat sich ihren Traum von der Universitätskarriere verbissen. So hatten wir eine Mutter bei uns, doch eine, die immer unzufrieden war, der wir ihre Aufopferung vergüten mussten mit Zuwendung. Ich habe mich anders entschieden. Zwar gebe ich nicht alles dran für meinen Traum, aber eine Menge: finanzielle Sicherheit, Anerkennung unter erfolgsorientierten Freunden. Vielleicht werden meine Kinder später sagen, sie hätten lieber teurere Urlaube gehabt als eine zufriedene Mutter. Mag sein.
JAQUELINE, 31 Jahre, Münster
Vielleicht sind die wahren Lebensträume gar nicht die großen, sondern die kleinen Lichtblicke, und mit denen belaste ich keinen.
SEBASTIAN DéGARDIN,
32 Jahre, Hamburg
"Weil er sein Selbst zurückstellt, schreitet er voran, weil er sich verschenkt, nimmt er zu, weil er nicht für sich sorgt,
wird er erhalten. Das ist es: Weil er selbst-los ist, erlangt er Selbst-Vollendung" (verwirklicht er seinen Lebenstraum). Der Text stammt von dem chinesischen Philosophen Lao-tse, sicher findet man in der Bibel die gleiche Antwort.
PETER RUDOLPH, 47 Jahre, München
Diese Frage erinnert mich an die Berufung der Jünger Jesu. Hatten sie vorher keine Verantwortung für andere? Jesus mag überzeugt gewesen sein, dass seine Botschaft wichtiger sei. Aber sich wichtiger nehmen als alles andere zeugt von Fanatismus. Wer einen Lebenstraum verwirklichen will, sollte sich mit den Angehörigen absprechen. Aber wer von einer Idee besessen ist, tut das nicht. Sonst gäbe es keinen Fortschritt.
DIRK MÜLLER-WESTING,
61 Jahre, Lüneburg
Mir meinen Lebenstraum zugestehen zu dürfen ist die erste wichtige Erkenntnis! Danach muss ich die Folgen klären. Dazu brauche ich das offene Gespräch mit den Betroffenen. Und die gleiche Offenheit mir selbst gegenüber! Was will ich? Warum will ich es? Besteht auch dort Klarheit und der Wunsch, den Lebenstraum anzugehen, muss ich mich entscheiden. Egal wie die Entscheidung ausfällt, sie wird mir helfen, bewusster und damit zufriedener zu leben.
KLAUS-DIETER SEHLCKE,
58 Jahre, Buchholz
Im Vertrauen
Jeden Monat laden wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, uns Ihre Erfahrungen zu einem vorgegebenen Thema mitzuteilen. Schildern Sie Erlebnisse und Begegnungen, lassen Sie uns an Ihren Beobachtungen teilhaben!
Das Thema im Januar: Kommt man ohne Lügen durch den Alltag? Kein Mensch sagt der Chefin, dem Partner, der Nachbarin immer die Wahrheit ins Gesicht. Mit Schummelei schont man sich und andere. Aber wie viel Lügen dürfen sein? Und wann zerstören Lügen unwiederbringlich das
Vertrauen?
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