15.11.2010

Vertrauen ist so wichtig, vielleicht das Wichtigste überhaupt. Ohne Vertrauen kann keine Gesellschaft existieren, jedenfalls nicht auf Dauer und nicht menschenwürdig. Ohne Vertrauen können wir keinen Brief in den Kasten werfen, in der sicheren Erwartung, dass er ankommt, kein Flugzeug besteigen, keine Ehe eingehen, kein Kind in die Welt setzen und nicht einmal ein Stück Rindfleisch kaufen.

Vertrauen ist wichtiger als Massenkommunikation und Internet, ja, es ist so etwas wie ein emotionales Internet. Wehe dem, der aus diesem Netz fällt! Er kann dann auch kaum Selbstvertrauen entwickeln ­ und umgekehrt: Nur, wer sich selbst vertraut, kann auch anderen vertrauen. Vertrauen ist die Grundlage jeder Beziehung.

Es lohnt sich, solche scheinbaren Selbstverständlichkeiten zu unterstreichen. Denn viele haben dieses Vertrauen in die eigene Stärke nicht, obwohl sie es sich sehnlichst wünschen. Die immer komplizierter werdende Welt ­ mit ihrer Pluralität und ihren täglichen Entscheidungszwängen ­ verwirrt und überfordert die Menschen. Es beginnt mit dem Einkauf und endet noch längst nicht bei den Wahlen. Selbst die Religionen sind heute dem Markt der Entscheidungen ausgesetzt.

Das verunsichert, das nagt an den Vertrauensgrundlagen der Gesellschaft, aber auch am Selbstvertrauen des Einzelnen. Offenbar ist dies der hohe Preis der Freiheit in der so genannten postmodernen Welt. Aber wer möchte deswegen eine frühere, angeblich fester gefügte, weil oft von blindem Vertrauen getragene Gesellschaft herbeiwünschen? Um in Freiheit menschlich zu leben, müssen wir das dieser Lebensform angemessene Selbstvertrauen entwickeln.

Nun leuchtet es zwar jeder und jedem ein, dass Selbstvertrauen wichtig wäre: für Fortkommen und Erfolg, für Kommunikation und Partnerschaft. Sonst wird nämlich jede Beziehung schwierig, weil sie nicht auf gleicher Augenhöhe stattfindet. Und das ist für beide Seiten auf die Dauer quälend, immer herauf- oder herabschauen zu müssen! Aber woher das Selbstvertrauen nehmen?

Zum einen mag Selbstvertrauen genetische Voraussetzungen haben: Vitalität, Gesundheit, gutes Aussehen, Intelligenz. Viel wichtiger jedoch ist erfahrenes Vertrauen, möglichst von klein auf. Wer geliebt und gefördert, aber auch gefordert wurde, hat es leichter, Selbstvertrauen zu entwickeln. Das Urvertrauen, das ein von den Eltern geliebtes Kind erhält, trägt auch noch den Erwachsenen durchs Leben.

Mir selbst ist im Leben viel schief gegangen, aber ich bin immer wieder auf die Füße gefallen. Eine gute Freundin sagte: Du bist ein Jupiter-Mensch, dir wird auf die Dauer nichts schaden. Das tat mir gut, obwohl ich nicht an Astrologie glaube. Aber ich glaube an eine gute Bestimmung über mein Leben und für mein Leben.

Natürlich fühle ich mich immer wieder gefördert und gefordert. In der 12. Klasse wollte ich von der Schule abgehen. Mein Vater gab nach. Aber meine Mutter sagte: "Setz dich auf deinen Hosenboden, und dann schaffst du es! Was blieb mir übrig: Ich ochste, bekam den Anschluss und später das Abitur. Die Prozedur hat mich gefordert. Aber meine Mutter hatte mich richtig eingeschätzt, und das hat mein Selbstvertrauen gefördert.

Zutrauen, Vertrauen: welche Elixiere des Wachstums! Wie oft sind wir auf Zuspruch angewiesen, wenn es uns schlecht geht, aber auch auf Herausforderung und sogar positive Kritik, damit es uns besser geht. Vor allem aber auf Menschen, von denen wir uns verstanden fühlen und die unser Bestes wollen. Nietzsche hatte Recht: "Was du von einem Menschen denkst, entzündest du in ihm." Aber wenn uns dieser Sprit aus der Kindheit fehlt, wenn wir keinen Kanister voll davon im Keller haben, dann müssen wir unser eigenes, selbst gemachtes Selbstvertrauen aufbauen.

Wie das vor sich geht? Schritt für Schritt. Ich muss einige Grundthesen aufstellen, auf die ich bauen kann. Gute Gedanken bewirken mehr Gutes als skeptische. Wem von klein auf eingeredet wird, nicht gut genug zu sein oder nicht viel zu taugen, wird lange brauchen, solche Botschaften zu überwinden. Aber wer sich gegen widrige Umstände und vor allem gegen Selbstabwertung zu behaupten lernt, entwickelt das stabilere Selbstvertrauen.

Ein Weg dazu sind Programme, wie sie übrigens schon seit über hundert Jahren bekannt sind. Ich sage mir täglich: Ich mag mich, ich mag die Menschen, ich bin freundlich zu mir und anderen, ich gönne anderen und mir Gutes, ja, das Beste. Ich akzeptiere auch meine Schwächen und suche, sie zu überwinden, mir selbst ­ meinen Gefühlen und Gedanken ­ zu trauen. Ich öffne mich den Bedürfnissen und Interessen der anderen, nachdem ich meine eigenen kennen gelernt und auch geäußert habe.

Ich mache mir meine Stärken bewusst, weil ich darauf aufbauen kann. Und weil ich etwas Besonderes und mit keinem anderen Menschen zu verwechseln bin. Dieses Gefühl der Besonderheit ist wahrscheinlich der Kern des Selbstvertrauens.

Für den gläubigen Menschen gibt es eine klare Herleitung: Weil Gott mich liebt, darf, ja soll ich mich lieben. Und da das auch für die anderen gilt, sage ich auch ja zu ihnen, so schwer das manchmal fällt.

Es ist erwiesen, dass destruktive Einstellungen nicht nur unglücklich, sondern auch krank machen können. Positive Einstellungen zum Leben wirken hingegen wie Vitamine. Ein finnisch-amerikanisches Forscherteam befragte vor einiger Zeit 2500 Männer über einen Zeitraum von sechs Jahren danach, wie sie sich selbst und ihre Zukunft einschätzten. Bereits in diesem recht kurzen Zeitraum zeigte sich: Verzagte und Pessimisten werden häufiger von Krebserkrankungen befallen. Noch verblüffender ist ein anderes Untersuchungsergebnis, wonach auch die Zahl der erlittenen Unfälle oder Gewaltverbrechen bei denen wesentlich höher liegt, die mit negativen Vorerwartungen an das Leben herangehen. Die Forscher sprechen von "hohen Hoffnungslosigkeitswerten" ­ kein schönes Wort, aber es trifft.

Selbstvertrauen ist die beste Selbstversicherung. Das gilt auch in einer Risikogesellschaft, gegen deren Gefahren wir uns lückenlos zu versichern trachten: Unfälle, Naturkatastrophen, Diebstahl, Krankheit und Tod. Aber eine total versicherte Welt wäre ein Gefängnis. Eine Vollkasko-Mentalität würde vergessen, dass Leben ein Risiko ist und dass wir im Grunde jeden Tag als ein Abenteuer beginnen.

Ohne Vertrauen könnten wir uns schon in unserer Jugend begraben lassen. Wer leben will, muss die permanente Krise des Vertrauens meistern und braucht dazu stabiles ­ geschenktes und erkämpftes ­ Selbstvertrauen. Diese Anforderung ist nicht übermenschlich und ihre Erfüllung macht uns nicht zu Übermenschen, sondern sie lässt uns Mensch sein unter Menschen.

Leserinnen und Leser schreiben zum Thema Selbstvertrauen

Ich gewinne Selbstvertrauen, indem ich mir zugestehe, auch Fehler machen zu dürfen. Ich gewinne es durch Erfolgserlebnisse, viel mehr noch aber durch Menschen, die mich annehmen und lieben, so wie ich bin, die an mich glauben, auch wenn ich versagt habe, und denen ich etwas sein und geben kann.

Ulrike Bauspiess, 24, Heuchelheim, Kr. Gießen

Wenn das Selbstbewusstsein im Keller ist, soll man mit kleinen Dingen anfangen ­ das hatte ich in einem Jugendmagazin gelesen. Und das funktioniert. Zum Beispiel gucke ich die Nachbarn richtig an, wenn ich sie treffe, bedanke mich im Penny-Markt an der Kasse und bekomme meistens eine Reaktion. Wenn ich nicht mehr so kurz angebunden bin und anfange, mit den Leuten ein bisschen zu reden, merke ich: "Mich frisst ja keiner."

Friederike Winkler, 17 Jahre, Hamburg

Aus irgendwelchen Gründen war mir mein Selbstvertrauen abhanden gekommen. Das erst einmal zu erkennen war ein wesentlicher Schritt. Anschließend übte ich in einzelnen Situationen, mir selbst ­ also meinen Gefühlen und Gedanken ­ wieder zu trauen. Ich wollte sie nicht immer wieder anzweifeln, sondern anfangen, darauf zu bauen. Damit machte ich gute Erfahrungen. Das ist ein wunderbares neues Lebensgefühl!

Renate Kelch, Berlin

Experte für Lebenskunst

Privat: Ulrich Beer wird am 11. Februar 1932 in

einer Pastorenfamilie in Langlingen, Kreis Celle, geboren. Nach Stationen in Raddestorf, Bonn und Reutlingen lebt er heute mit seiner Frau in Eisenbach im Hochschwarzwald

Therapeut: Nach dem Psychologie-Studium

arbeitet Beer als Erzieher in einem Jugendwohnheim und als Dozent. 1966 eröffnet er eine Praxis als

freiberuflicher Psychologe, die er bis heute führt.

Bekannt machen ihn seine psychologischen

Kommentatore in der ZDF-Serie "Ehen vor Gericht"

Autor: Er schreibt über Charles Darwin, Friedrich Nietzsche und Wilhelm Busch, dessen Humor und Lebensweisheit er schätzt. Und er verfasst erfolgreiche Ratgeber wie "Kinder brauchen Zuversicht", "Erste Liebe lernen" und "Neues Glück finden". Sein jüngstes Buch: Lebenskraft aus Lebenskrisen, Echter Verlag, Würzburg. 344 Seiten, 39,80 DM

Im Vertrauen

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Einsamkeit

In der modernen Gesellschaft gibt es wahrscheinlich mehr Menschen, die sich allein fühlen, als je zuvor. Wir leben freier, aber auch isolierter als unsere Vorfahren. Wie erleben

Sie Einsamkeit? Und wie lässt sich Einsamkeit überwinden?

Zum Thema Einsamkeit schreiben Sie uns bitte bis zum 31. Oktober an

chrisma

Stichwort: Im Vertrauen Postfach 20 32 30 20222 Hamburg

E-Mail: im-vertrauen@chrisma.de

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