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Eine alte Angewohnheit: Wenn mir ein Zeitungsartikel wirklich etwas zu sagen hat, schneide ich ihn aus und hebe ihn auf. Ich lese ihn zwei, drei Mal und lege ihn dann auf einen großen Haufen. Alle Jahre wieder schaue ich diesen Haufen durch und werfe das meiste davon ins Altpapier. Manchmal jedoch bleibe ich an einem uralten Artikel hängen und lese ihn, als wäre er gerade erst für den heutigen Tag geschrieben worden.
So ging es mir vor kurzem, als ich einen Artikel vom 23. April 1999 wieder in die Hand nahm. Charles Simic hat ihn damals geschrieben, einer der wunderbarsten Dichter unserer Tage. Seit langem lebt er in den USA. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg irrte er als Jugendlicher mit seiner Familie durch Europa auf der Suche nach einer neuen Heimat. In Belgrad konnten und wollten sie nicht bleiben.
Aus dieser Erfahrung zog er Lebenslehren, die den sicher Beheimateten und fest Dazugehörigen erspart bleiben:
- „Es ist für den, der die Erfahrung nicht selbst gemacht hat, schwierig zu ermessen, was es heißt, keine richtigen Personalpapiere zu haben.“
- „Den Flüchtling mag niemand.“
- „Die Lust, die Machtlosen zu demütigen, darf man nicht unterschätzen.“
- „Auswanderung, Exil, die Pariaexistenz des Entwurzelten – das dürfte die effektivste Methode sein, um einem Menschen das völlig Willkürliche der eigenen Existenz nahezubringen.“
- „Niemand zu sein – das erschien mir persönlich wesentlich interessanter, als jemand zu sein. Die Straßen waren voll von diesen Jemanden, die sich den Anschein größter Selbstgewissheit gaben. Manchmal beneidete ich sie; manchmal sah ich mitleidig auf sie hinab. Ich wusste um etwas, das ihnen unbekannt war, ich besaß ein Wissen, das man nur schwer erlangt, falls einem die Geschichte nicht ein kräftigen Tritt in den Hintern gibt: Wie überflüssig und unbedeutend in jedem großen Geschichtsplan die Individuen sind! Wie erbarmungslos jene sind, die keinen Begriff davon haben, dass die Überflüssigkeit auch ihr Schicksal sein könnte!“