Seit fast viereinhalb Jahren bringen sie Blumen, Kerzen, kleine Geschenke. Sie legen sie unter den Baum. Die Familien, Freunde und Bekannten sie haben sich dabei nie gefragt, was das für ein Baum ist, sie schauen nicht hoch zu den Blättern, immer nur nach unten. Auf die beiden Holzkreuze.
Sieben Bäume säumen die Straße an dieser Stelle mitten in Kassel, Steinweg/Ecke Du-Ry-Straße, auf dem Grünstreifen. Es ist der dritte Baum in der Reihe, eine Roteiche. Dahinter ein Parkplatz, davor der Bürgersteig, gegenüber 60er-Jahre-Wohnblöcke, grau und schlammfarben; im Erdgeschoss ein Tätowierungsstudio, ein griechisches Restaurant, ein Buchladen.
Das Unglück passierte am 22. Dezember 2002, null Uhr 50 in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Es war kalt, etwa null Grad, Nebel. Ziemlich ungemütlich.
"Ein Pkw-Fahrer aus Staufenberg befuhr mit überhöhter Geschwindigkeit den Steinweg in Richtung Kreuzung Altmarkt. In einer leichten Rechtskurve geriet das Fz. ins Schleudern, kam nach rechts von der Fahrbahn ab und prallte kurz vor der Einmündung Du-Ry-Straße mit dem Heck gegen einen Baum." Das meldete Polizeihauptkommissar Bringmann der Öffentlichkeit, an jenem Tag war er Polizeiführer vom Dienst/E31 im Polizeipräsidium Nordhessen.
Sandra Weinhold und ihr Freund Tim Hofmann, beide 16, saßen hinten links. Sie waren sofort tot. Genickbruch. Timo Strogalski, 18, starb um vier Uhr acht in der Klinik. Tanja E. war 17 und überlebte, sie hatte ein Schädelhirntrauma, einen gebrochenen Oberschenkel. Jörn T., der Fahrer, 20 Jahre und fünf Monate, brach sich die Nase, auch er hatte ein Schädelhirntrauma.
Nur wenige Stunden später lagen Blumen und Stofftiere an der Unfallstelle, Kerzen brannten. Eine Erinnerungsstätte, die plötzlich da war, ohne dass es jemand geplant hätte. Vier Tage nach dem Unfall stand das erste Kreuz, ein Bekannter von Sandras Eltern hatte es angefertigt.
In den Alpenländern stellte man früher Marterln auf Bildstöcke oder Flurkreuze für am Berg Verunglückte. Sie waren gestorben, ohne die letzten Sakramente zu erhalten, und Marterln erinnerten jeden Wanderer daran, für das Seelenheil des plötzlich Abberufenen zu beten. Kreuze an der Leitplanke, dort, wo Menschen bei Verkehrsunfällen zu Tode kamen, gibt es noch nicht so lange. Seit 30, 40 Jahren vielleicht. Wie viele an Deutschlands Straßen stehen, weiß niemand.
Keiner, der nach langer Krankheit in der Klinik oder im Altenheim stirbt, erhält eine Gedenkstätte neben der Pforte. Was treibt Menschen an, ihre Trauer öffentlich zu machen? Reicht der Friedhof nicht?
An diesem Ort ist mein Kind gegangen
Kreuze stehen an gefährlichen Kurven. An Bahnübergängen. An Alleen. Mitten im Leben. Sie zeugen von einem plötzlichen, unvorbereiteten und frühen Tod. Eltern sind aus gutem Grund besorgt, wenn die Kinder flügge werden und mobil. Ab 15 Jahren steigt die Zahl der Unfalltoten deutlich an, ab 25 sinkt sie wieder. 2006 starben in Deutschland 5091 Menschen bei Verkehrsunfällen, 1184 von ihnen zwischen 15 und 25. Alkohol. Selbstüberschätzung. Unerfahrenheit.
"Ich gehe", sagt Ina Weinhold, Sandras Mutter, "nur bei Dunkelheit zur Unfallstelle." Immer am 22. eines Monats und nur in Begleitung ihres Lebensgefährten. Ina Weinhold, 42 Jahre, Grundschullehrerin für "alles außer Religion und Musik", ist klein und zierlich, so ätherisch, als wäre sie eine Erscheinung. Sie trägt die blonden Haare lang und glatt, die Trauer hat ihrer Schönheit nichts anhaben können. Lachfältchen hat sie fast keine.
An Sandras Grab ist es für sie einfacher als an der Unfallstelle. Dort befalle sie immer so ein Unruhegefühl, Herzrasen, es geht ihr dann einfach nicht gut. Einmal hat jemand sie aus dem Auto heraus angebrüllt, dass so was ja wohl auf den Friedhof gehöre. Seither will sie vermeiden, dass man sie anschaut. Kurz vor dem Baum waren Sandras letzte Sekunden, flüstert sie, dann war's vorbei. "An diesem Ort ist mein Kind gegangen."
1998 war sie mit ihrem Mann Frank und den Kindern Robert, Sandra und Christoph von Gera weggezogen, erst nach Kassel, dann nach Staufenberg, ins Umland, zwölf Kilometer entfernt. Sie waren eine normale Familie, hatten ein Haus gebaut und gute Jobs. Ina Weinhold sagt, sie sei ein Sonntagskind, habe gedacht, ihr könne nichts geschehen und den Kindern eines Sonntagskindes auch nicht.
Sandra und ihre Freunde verbrachten den Abend im "Almrausch", einer Diskothek in der Karthäuser Straße 5A, Skihütten-Ambiente, Ballermannmusik. Es gab drei "Wodka Big Pump" zum Preis von einem, 3,50 Euro insgesamt, und Sandra versprach der Mutter, mit Bahn, Bus und Sammeltaxi heimzukommen.
Jörn T. bot sich an, die vier Freunde zum Sammeltaxistand zu fahren, man kannte sich flüchtig. Jörn T., Einzelkind, Sohn zweier Lehrer, fuhr einen roten Golf IV, tiefer gelegt. Er drehte die Musik laut, und weil Tanja E. den Unfall überlebt hatte, ließen sich die Geschehnisse rekonstruieren: Er habe die Türen verriegelt, "hier kommt keiner mehr raus", soll er gesagt haben, 2,06 Promille im Blut.
Er bog in den Steinweg, beschleunigte auf knapp 90 km/h wo 50 erlaubt sind, wechselte abrupt die Spuren, gleich kracht's, dachte eine Zeugin. Vorbei an Friedrichsplatz, Staatstheater, Naturkundemuseum. Eine leichte Kurve, der Wagen schleuderte, dann der Baum. Keine zwei Minuten, nachdem sie losgefahren waren.
Das Auto prallte schräg hinten links auf, dort, wo die C-Säule ist; die Roteiche trennte den Golf bis fast zur Mitte, die Hinterachse riss ab. Eine letzte Drehung, dann stand der Golf wieder in Fahrtrichtung, ein, zwei Meter neben dem Baum.
Der Steinweg ist sechsspurig und leicht abschüssig an jener Stelle, es riecht nach Abgasen, der Verkehr brummt, auch nachts. Doch Jürgen Barchfeld, 47, Einsatzleiter der Kasseler Feuerwehr, hörte nur Totenstille um kurz vor eins am 22. Dezember 2002. Zwei Tage noch bis Weihnachten.
Sandra und Tim waren frisch verliebt und hielten sich an der Hand, als man sie fand auf der Rückbank des Golfs. Ihre Gesichter waren zerschmettert. "Die konnten sich des Todes nicht erwehren", sagt Barchfeld. "Wir haben nicht damit gerechnet, dass da Leichen drin sind."
Drei RTW, ein NEF, ein ELW, ein HLF, ein RW. Rettungswagen, Notarzteinsatzfahrzeug, Einsatzleitwagen, Hilfeleistungslöschfahrzeug, Rüstwagen mit Kran und Rettungsschere und Spreizer. Den brauchte man, um die hinteren Insassen zu befreien.
Ich kann es nicht ausblenden
Jürgen Barchfeld, dunkle Haare, buschige Augenbrauen, ist Feuerwehrmann seit 26 Jahren; er trägt eine blaue Arbeitshose, einen blauen Pullover mit dem Aufdruck "Feuerwehr Kassel", blaue Sicherheitsschuhe. Barchfeld ist mittelgroß und hat ein Bäuchlein und wirkt wie einer, den nichts aus der Ruhe bringen kann.
Er hat die Unfälle nicht gezählt, zu denen er gerufen wurde, und er weiß nicht, wie viele Kreuze danach aufgestellt wurden. Doch diesen Unfall kann er nicht vergessen. Weil es drei Tote waren. Weil er Familie Weinhold besucht hat. Sie zeigten ihm Sandras Zimmer, an ihrer Fensterscheibe hing ein Gedicht, das hatte sie selbst geschrieben, kurz bevor sie starb: "Geboren, um zu sterben. Leben, um zu lieben. Lieben, um geliebt zu werden. Tot."
Meist sind Kreuze am Straßenrand aus Holz, selten aus Stein, manchmal aus Gusseisen, und oft sind Fotos der Opfer darangeheftet. Vor allem zu Geburts- und Todestag, an Ostern, Totensonntag oder Weihnachten besuchen die Angehörigen, die Freunde, Kollegen oder Bekannten die Erinnerungsstätten und verhalten sich dort nicht anders als auf dem Friedhof.
Es sind zwei Kreuze, die am Fuß der Roteiche stehen, eines für Sandra, Tim und Timo zusammen, eines nur für Tim. "Warum?" steht darauf und "WLS 10b", seine Schulklasse. Der Boden um den Baum ist eingefasst und mit Kieselsteinen belegt. Wie ein kleines Grab. Darauf Blumenkörbchen, Vasen voller bunter Blumen, immergrüne Stauden. Engelfiguren, Schmetterlinge. Drei Grablichter, davor drei Kaubonbons. Am Stamm der Roteiche hängt ein Foto von Timo, er grinst und winkt in die Kamera. Und ein Foto von Sandra und Tim, sie lehnen aneinander.
Erinnerungsstätten am Straßenrand klagen an, sie zeigen deutlich, dass hier junge Menschen starben wie eine Gegenbewegung zur anonymen Bestattung, die ältere Menschen sich oft wünschen, weil nichts Sichtbares bleiben soll.
"Ich kann es nicht ausblenden", sagt Feuerwehrmann Barchfeld, "ich fahr ja immer wieder dran vorbei." Aber ausgestiegen ist er nur einmal, "öfter würde ich das nicht aushalten". Er habe Kinder im selben Alter. Die Kreuze sind für ihn ein Mahnmal. "Aber ich bin mir nicht sicher", sagt er, "ob Jugendliche sich davon angesprochen fühlen." Viele scheinen zu glauben, dass ihnen so was nicht passieren kann.
Ich war auch fast Tot. Innerlich
Am Morgen des 22. Dezember 2002 um vier Uhr 30 trafen zwei Polizisten bei Weinholds ein. "Sie forderten uns auf, uns hinzusetzen", schreibt die Mutter auf der Gedenkhomepage, die sie für Sandra angelegt hat. "Bei mir setzte an dieser Stelle alles aus. Ich erinnere mich noch, dass ich fragte, ob unsere Tochter tot sei, und sie bejahten dies." Von jenem Moment an "sind wir nur noch gefallen".
Der Gedenkgottesdienst zu Sandras Einäscherung war am 28. Dezember, am 11. Januar begruben die Eltern Weinhold ihre Tochter. "Irgendwie ist das erste Jahr vergangen, ich weiß nicht mehr viel davon", sagt Ina Weinhold. Sie sei nach innen gewachsen, nur rückwärts gegangen, erinnert sie sich, und irgendwann habe sie gemerkt, dass sie selbst auch fast tot war. Innerlich.
Wie die Menschen hat auch die Roteiche Narben davongetragen. "Sie wachsen mit so hütet der Baum die Erinnerung", sagt Ina Weinhold. Massiv beschädigt sei die Roteiche, sagt man im Umwelt- und Gartenamt der Stadt Kassel, und dass von einer geringen Reststandzeit auszugehen sei.
Wegkreuze stehen überall in Deutschland, egal, ob ein Landstrich evangelisch geprägt ist oder katholisch oder säkularisiert ist wie im Osten. Das Kreuz als christliches Zeichen ist Symbol des Todes und des Totengedenkens, und doch spielen religiöse Motive bei den Erinnerungsstätten fast keine Rolle mehr. Ein Symbol, das sich verselbstständigt hat: Auch Muslime stellen hierzulande für ihre Unfalltoten Kreuze auf.
Er soll immer daran erinnert werden
Ein Energiebündel sei Sandra gewesen, immer habe sie alle mitgerissen. Tiere hat sie geliebt, ihren Kater Strolch, den Hund Foxi, den Hasen, zwei Mäuse. Sandra habe intensiv gelebt, sagt Ina Weinhold. Ihre Tochter wollte Pathologin werden, schon mit zwölf.
Ein hübsches Mädchen mit langen brünetten Haaren, einem feinen Gesicht, ganz die Mutter. "Sandras Tod war für mich die Lebenskatastrophe schlechthin", sagt Ina Weinhold. Der weibliche Teil in der Familie sei weggebrochen bei drei Männern, die über Gefühle nicht sprechen könnten. "Ich will sie so gern in den Arm nehmen vielleicht in meinem Leben nach dem Tod. Ich habe die Hoffnung, sie wiederzusehen."
Am 7. Januar 2004 begann der Gerichtsprozess gegen Jörn T., Landgericht Kassel, dritte Strafkammer, auch die Weinholds waren Nebenkläger. Der Richter urteilte nach Jugendstrafrecht, zwei Jahre auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung, Verkehrsgefährdung. Es kam zur Revision, im zweiten Prozess ging es auch um Freiheitsberaubung wegen der Zentralverriegelung. Der medizinische Sachverständige sprach von gestörter Aggressivität, Persönlichkeitsstörung, Selbstunsicherheit und Alkoholgewöhnung des Angeklagten. Dass er sein Auto als Tatwaffe eingesetzt habe, dass er eine lebende Zeitbombe gewesen sei, so schrieb es die "Hessische/Niedersächsische Allgemeine". Urteil im Juli 2005: dreijährige Jugendstrafe, viereinhalb Jahre Führerscheinentzug. "Ein Urteil, mit dem wir leben können und müssen", sagt die Mutter. Es bleibe für sie aber ein Leben mit einem immerwährenden "Wenn Sandra heute hier wäre".
Die Gedenkstätte ist daher auch ein Vorwurf an den Todesfahrer. "Er soll immer daran erinnert werden, natürlich. Seine Angehörigen auch und sein Umfeld auch. Das sind Menschen, die beschönigen und lügen", spricht Ina Weinhold und strafft sich. Sie sagt das so selbstverständlich, als wäre es ein Verrat an Sandra, nicht so zu denken. "Aber eigentlich ist das nur zweitrangig. In erster Linie ist es unser Ort."
Christine Hartmann, 23, Tierarzthelferin, eine Freundin von Sandra, hat die Pflege der Unfallstelle übernommen. Sie ist schlank, hat blonde Haare, ein paar Piercings im Gesicht. Christine Hartmann wohnt in Kassel, und mindestens jeden zweiten Tag fährt sie zu der Roteiche im Steinweg, bringt frische Blumen. Besonders wichtig sind die Kerzen. "Eine brennt immer", sagt sie, "dort muss Licht sein."
Ina Weinhold hat ihren Mann verlassen. "Wir waren fest davon überzeugt, dass wir es schaffen würden", sagt sie, aber zwei Einbeinige könnten sich nicht stützen. Die Trauer habe sie von ihrer Familie entfernt. Seit zwei Jahren hat sie einen neuen Partner, und sie bekam noch ein Kind, einen Sohn, Florentin, er ist jetzt ein Jahr alt.
Was sie bereut, ist, dass sie Sandra vor der Einäscherung nicht noch mal gesehen hat. Der Bestatter habe davon abgeraten, das zerschmetterte Gesicht, sie sollte die Tochter doch so in Erinnerung behalten, wie sie war. "Ich habe verpasst, ihr den letzten Kuss zu geben. Ich habe es nicht begriffen. Ich würde jemandem immer sagen, guck's dir an, nimm die Hand."
Verkehrstod kennt keinen Abschied. Eine Gedenkstätte hilft, den Kummer zu teilen; dadurch, dass man ihn öffentlich macht, herausschreit, und wenn es ein stummes, symbolhaftes Hinausschreien ist. Ein Aufruf an jeden, der vorüberfährt, mitzuwirken bei der Trauerbewältigung, Teil einer neuen, großen Trauergemeinde zu werden. Wie bei den Marterln.
Ihr Lachen fehlt mir sehr
Dass die Kreuze an der Unfallstelle andere in ihrem Fahrverhalten beeinflussen, vermag Ina Weinhold nicht zu hoffen. Auch Christine Hartmann glaubt nicht, dass sich junge Autofahrer davon abschrecken lassen. "Wer rasen will, der rast."
Am 8. Oktober 2006 starb ein paar Meter weiter ein junger Mann namens Nikolai, er war 22 Jahre alt, und er fuhr selbst vermutlich alkoholisiert gegen den übernächsten Baum. Eine Winterlinde. An seinem Kreuz liegt neben Blumen, Kerzen, Engelfiguren sogar eine silberfarbene Radkappe.
Manchmal, wenn Christine Hartmann an Sandras Unfallstelle steht und der toten Freundin von ihrem Tag erzählt, dann drehen Autofahrer die Musik noch lauter. Oder sie hupen. Als wollten sie ihre eigenen Gedanken an das, was passieren könnte, übertönen. Bloß nicht innehalten.
Wegekreuze dürfen keine Gefahr darstellen und müssen hinter der Leitplanke stehen oder in genügendem Abstand zum Straßenrand. Meist lassen die Straßenmeistereien die Angehörigen gewähren. Die Pietät gebietet es, Kreuze nicht einfach abzureißen. Wenn die Trauer vergeht, dann vergehen oft auch die Erinnerungsstätten. Echte Blumen weichen Plastikblumen, Holzkreuze verwittern. Nicht bei Sandra, Tim und Timo.
Sandras Lachen fehle ihr sehr, sagt Christine Hartmann, und sie fühlt sich der Freundin hier an der Unfallstelle besonders nah. Sie glaubt, dass Sandra ihr dort Zeichen gibt: mit Windstößen, wenn sie eine Kerze anzünden will. Und manchmal höre sie aus Autos Lieder, die auch auf der Beerdigung liefen, meist Xavier Naidoos "Abschied nehmen".