Unweit der Stadt. Siebenundzwanzig Minuten braucht die Regionalbahn von Stuttgart. Munter flitzt sie durch Vorstädte, Weinberge tauchen auf, dann erneut Siedlungen, die Stadt will und will nicht aufhören. Wieder Weinterrassen, Trockenmauern, Rebstöcke in schnurgeraden Reihen, schwäbisch ordentliche Weinberghäusle. Auf einem leuchtet schrill rot und silbern ein Graffito: "modern talking". Rote Fahrkartenautomaten, Bänke, von Baldachinen aus Plexiglas beschirmt. Kein Kirchturm in Sicht, nur ein Kraftwerk, wie ein riesiges Schiff liegt es da, der dazugehörige Fluss namens Neckar verbirgt sich. "Grüß Gott!", ruft jemand.
"Und wann wurde die letzte Kuh gesichtet?"
Frieder Müller ist da. Seines Zeichens Dorfschullehrer im Ruhestand, weißbärtig und verschmitzt, langjährig erfahren im Gäste-an-der-Hand-Nehmen. Die Bahnhofstraße ist schmal und etwas krumm, links die Raiffeisenbank, rechts der "Friseursalon Anita Weiss". Im Schaufenster zwischen gestylten Köpfen eine alte Milchkanne. "Und wann wurde die letzte Kuh gesichtet?" "144 Milchablieferer gab es 1948", sagt Frieder Müller, "vor fünf Jahren noch einen, jetzt keinen." Zwei Sätze und die Hauptstraße ist erreicht. "Grüß Gott, Frieder!" "Grüß Gott, Marie!" Ein kurzer fragender Blick auf die Fremde: Mit wem geht er da, der Frieder? Der Witwer. Weinlaubumrankte, spitzgieblige Häuser, mit der Schmalseite zur Straße hin, Hofeinfahrten, die auf Scheunen zuführen. Die meisten scheinen leer zu stehen oder dienen als Carport. Frieder Müller geht voran, er spricht und spricht über die Hauptstraße, die zur Römerzeit die via principalis war, das alte Rathaus mit Türmchen, schweift ab, weist tadelnd auf einen Weinstock am Haus gegenüber: "Der müsste dringend zurückgeschnitten werden!"
Der fremde Gast sieht erst mal eines: die zwei Dämme, zwischen denen Walheim eingekeilt ist und auf denen Verkehr braust, die Eisenbahn und auf dem Neckardamm die B 27, Autokolonnen, die aus der Höhe in Häuser und Straßen lärmen. Ein Dorf in Europa. Staunenswert, wie alt manche Dörfer in Europa sind! Walheim wurde 1071 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Vorher schon stand an dieser Stelle ein Römerkastell. Davor siedelten Kelten, und weil bei diesen der Bach weiblich war, sagt ein Walheimer heute noch "die Bäch".
Mehr als 2000 Jahre Sesshaftigkeit, gewachsene Lebensformen und Teil der großen Welt.
Mehr als 2000 Jahre Sesshaftigkeit, gewachsene Lebensformen, und zugleich war Walheim immer auch Teil der großen Welt. Christianisierung und Reformation, die Pest, die Verheerungen des 30-jährigen Krieges, ein Dorf durchlebte alles. Nach der Bauernbefreiung wanderten Familien nach Amerika aus oder nach Osten, an die Donau, die Wolga. Die Industrie zog die Jugend in die Städte. Dramatische Veränderungen, und doch blieb das Dorf eine anscheinend unverwüstliche Institution der Menschheit. In Walheim bis in die Zeit des Wilhelm Hilligard. Wir wissen dies aus einem Büchlein, das sein Enkel Frieder Müller schrieb. Es beginnt 1892, mit einem Unglück: Weil Wilhelm für einen leichtsinnigen Vetter gebürgt hat, verliert er Haus und Hof. Derweil die Familie den Umzug in das neue, winzige Domizil im Neckargässle vorbereitet, nimmt das bäuerliche Jahr seinen Lauf: pflügen im nasskalten November, Gerste dreschen, damals noch mit Flegel, "metzeln", Winterarbeiten im "Wengert", dem Weinberg, schnapsen. Bis im Frühling der Wengert wieder ruft, die Männer zum Schneiden, die Frauen zum Biegen. In den Juni hinein, die schwerste Zeit, wo Heu- und Kirschenernte zusammenfallen... Eine wunderbare Momentaufnahme des bäuerlichen Kosmos ist dieses Büchlein: Mischwirtschaft auf "Strumpfbändel-Feldern", die durch Erbteilung immer noch kleiner wurden. Härteste Arbeit, zuweilen Not. Nicht jeder wurde wie Wilhelm Hilligard durch Armut fromm. Familien zerstritten sich aufs Blut um das Erbe, um ein Stück "Schalkstein", die beste Weinlage am Ort. Bis das Dorf sich grundlegend wandelte. "Das ging", sagt Frieder Müller, "1907 los, als mein Großvater eine Dreschmaschine kaufte." Um die Zeit etwa bekam Walheim einen Bahnhof, seitdem konnte man in die Stadt pendeln.
"Baure-Kind".
Im Walheim von heute gibt es nur noch zwei Vollerwerbsbauern. Aber jede Menge "Baure-Kinder". Viele wohnen im Elterlichen, in Stuben, so niedrig und bucklig, dass moderne Möbel in ihnen unpassend wirken. "Kinderarbeit?" Ruth Seyb lacht. Genauer: Ihr Mund lacht, die Augen sind ernst. Für ein "Baure-Kind", Jahrgang 1935, war es selbstverständlich, dass es mitschaffte. Pflanzen, säen, Heu aufladen, von Kindsbeinen an waren sie und ihr Bruder dabei. Der Vater fiel im Februar 1945 bei Königsberg, die Mutter musste mit zwei halbwüchsigen Kindern die Wirtschaft besorgen. An einem Kartoffelsack verhob sich die kleine Ruth so, dass sie innere Blutungen bekam. "Was die Bibel von Witwen und Waisen schreibt, ist wahr. Es war schwer. Und ich wollte immer lernen, einen Beruf haben." Sie haderte. Auch mit dem Dorf, trug aus Lust am Skandal Kleider ohne Arm, sogar in der Kirche. Erst spät, die eigenen Kinder waren schon groß, verwirklichte sie ihren Traum, arbeitete als Erzieherin und in der Bücherei. Und förderte "Mädle, die sich fortträumen aus Walheim". Obwohl das bäuerliche Leben so elend hart war, vermisst sie es heute fast. Ihr Land hat sie verpachtet, nur den Weinberg nicht. "Ich hab eine Freud daran. Eine archaische Tätigkeit wie Pflügen oder Brotbacken." Nicht das Weinlesen, vor allem das Schneiden der Reben ist für sie elementar. "Wie ein Schöpfungsakt", sagt sie. Und macht dazu, damit es nicht gar zu feierlich klingt, ein spitzbübisches Gesicht.
"Wie wir reich wurden."
Der Umbruch im Dorf war ein langer, stiller Prozess. Vielleicht hat er erst in der Generation von Ruth Seyb und Frieder Müller wirklich stattgefunden? Wann war in Walheim die alte Zeit zu Ende? "Wie wir reich wurden, etwa Mitte der 60er", meint Ruth Seyb. "Wie wir aufhörten, einander Haushaltsgeräte auszuleihen." Jede Frau hatte nun ihre eigenen, damit entfiel das Schwätzchen, das mit dem Leihen und Zurückbringen verbunden war. Andere halten das Jahr 1968 für ein wichtiges Datum, als Heinrike Sommer, die seit 1931 tätige Haushebamme, in Rente ging. Und man aufhörte, die Toten durch die Dorfstraße zu tragen. "Weil der Leichenzug jedes Mal im Verkehr stecken blieb", erinnert sich Max Lansche, der langjährige Totengräber von Walheim. "Seit 1968 wurden die Toten nicht mehr zu Hause, sondern im Totenhäusle auf dem Friedhof aufgebahrt." Die 60er hatten es offenbar in sich. Große Dinge vollzogen sich, wie der Bau des Dampfkraftwerks und die Flurbereinigung. Und kleine: Hausschlachtungen hörten auf, Haarteile für Dutts gerieten aus der Mode. "Wengertschützen", die vor der Lese gefräßige Vögel vertrieben, wurden rar. Die Leute gingen nicht mehr zum "Vorsitz" der schöne Brauch, zwischen Martini und Lichtmess Verwandte und Nachbarn zu besuchen, verschwand, stattdessen sah man fern. Manche datieren den Wandel früher, auf den Bau des Neckardamms 1954. Er schützte vor Hochwasser und trennte die Walheimer vom Fluss. Vorbei die Zeit, da man, verschwitzt von der Ernte, das Gässle runterrannte und juchzend ins Wasser sprang. Um zum Neckar zu gelangen, nur seinen Anblick zu genießen, mussten die Walheimer fortan einen Umweg machen, bis zu einem "Durchlass". Vielleicht begann alles noch früher? In dem von der Dorfchronik überlieferten Augenblick, 1948, im Advent: Der Posaunenchor spielt auf der Eisenbahnbrücke, und plötzlich läuft die dörfliche Gänseherde dazwischen und spektakelt, so lange, bis die Bläser in Gelächter ausbrechen. Der große Auftritt der Tiere war offenbar ihr letzter. Im Jahr der Währungsreform, als die durch Krieg und Not wieder ausgeweitete Selbstversorgung durch die Warenwirtschaft abgelöst wurde, brauchte man eine gemeinschaftlich gehütete Gänseschar und vieles andere nicht mehr.
Vom Glück des Weinbaus.
1951 tauchten im Wengert die ersten Motorhacker auf. "Das war der Einstieg in die Modernisierung", sagt Karl Schweiker, Chef der regionalen Winzergenossenschaft. Halb Bauer, halb Manager, so wirkt er auch äußerlich. Als Bub lernte er noch, alles mit der Hand zu tun, war für das Neue und setzte es, sobald er als Weinbaumeister ausgelernt hatte, energisch gegen die Alten durch. Reihenweise starben damals die Höfe. Milchwirtschaft, Schweinemast, Obstbau schwanden dahin. Alles, und das setzte die Bauern selbst in Erstaunen: bis auf den Weinbau, der hielt sich. Dank der Genossenschaft, die für modernes Management sorgt, und dank vieler kleiner "Wengerter". 180 Walheimer, sagt Schweiker stolz, sind Genossenschaftsmitglieder, betreiben heute Weinbau: im Nebenerwerb. Das erbringt ein "gutes Zubrot". Es sind keineswegs nur die störrischen Alten, die davon nicht lassen können, auch Jüngere. Frauen, deren Männer in der Stadt verdienen, die ihr eigenes Geld haben wollen. Büromenschen, die nach Feierabend einen Ausgleich brauchen. Ein Wengert versöhnt Frührentner mit dem Ruhestand. Die Art der Tätigkeit scheint irgendwie in die Nischen der modernen Zeit zu passen. Eine Kuh will zwei Mal täglich gemolken sein, der Weinberg braucht seinen Besitzer nur 15 bis 20 Mal jährlich. Und der Herbst ist ein Fest! Wenn auf den steilen Hängen gemeinschaftlich gelesen wird. Oft sind städtische Verwandte und Freunde dabei. "Ein Glücksgefühl", sagt Schweiker.
Lob der Begrenzung.
"Ist Walheim noch ein Dorf?"- "Ja", heißt es, beinahe unisono. "Inwiefern?" "Weil fast jeder jeden kennt." "Was hält Walheim zusammen, Pfarrer Sieber?" Die Antwort ist verblüffend: "Der Mangel an Bauland." Aufgrund der topografischen Lage zwischen Fluss und Weinberg kann sich das Dorf kaum ausdehnen. Am Berg, jenseits der Bahn, wurden nur wenige kleine Baugebiete ausgewiesen. Während andere stadtnahe Dörfer ihre Einwohnerzahl vervielfachten, wuchs Walheim langsam, bis auf 3000 Seelen und Schluss. Ein überschaubarer Zuwachs, für alle zu verkraften, auch für den Herrgott. Für die Kirche, die hier 60 Prozent der Walheimer einschließt und "immer noch evangelisch ist und pietistisch geprägt". Pfarrer Siebers Aufgabe bleibt mühevoll genug. Er setzt auf Jugendarbeit, auf Keyboard, moderne Bibelübersetzung, und das mit Erfolg. Den Alten hingegen ist der Stadtmensch Sieber zu wenig gefühlvoll. Ans Kranken- und Sterbebett ruft man ihn nur selten. Aufs Ganze gesehen aber hat die Kirchengemeinde bis jetzt ein gutes Fundament. Hundertsiebzig ehrenamtliche Mitarbeiter, Vereine CVJM, "Liederkranz", Sportverein, die zu diversen Anlässen kirchlichen Segen anfordern. Noch ist die dörfliche Struktur lebendig. Vor allem über die Vereine, lobt Sieber, "sorgen die Walheimer dafür, dass Walheim Walheim bleibt". Im Zweifelsfalle, das weiß er ebenso gut, auch ohne oder gegen ihn. "Wir haben schon viele Pfarrer überlebt", ist von älteren Dorfbewohnern hier und da zu hören.
Die Neu-Walheimer.
Walheim hatte einiges zu verkraften. Vertriebene aus dem Sudetenland und Schlesien, Katholiken also und Habenichtse. Anfangs Bürger zweiter Klasse, fanden sie sich mit der Zeit zurecht. Ein "Flüchtlingsmädle" wie die hübsche Marie Weiss war eine Außenseiterin, selbst nach der Heirat mit einem Alt-Walheimer und vier Kindern. Aber Walheim ist "offener geworden", duldet, und das schätzt sie sehr, "dass ich mich nicht völlig hab integrieren lasse". Walheim hat seine Gastarbeiter wie den tüchtigen Anton Grabant, der als junger Mann aus Kroatien kam. Mitte der 60er, die Sioux-Schuhfabrik suchte händeringend gelernte Schuhmacher. "Fremd war mir Walheim nie, ein Dorf wie bei uns an der Drau, nur entwickelter." Auf die Hiesigen zugehen war seine Devise und die seiner Frau Maria. Familiensprache blieb das Kroatische, zum Speisezettel gehören inzwischen Spätzle und Hefezopf. Mit den deutschen Nachbarn verbinden sie gemeinsame Erinnerungen, etwa an das schon lange geschlossene Lädchen von "Tante Mieze". Zu Walheim gehören Berufspendler wie der weltgewandte Ulf Hecksteden. Vor Jahren suchte er mit der Familie einen Ort im Grünen, maximal 30 Bahnminuten von Stuttgart, dem Arbeitsplatz im Kultusministerium, und landete hier. Drei Kinder wuchsen heran, Ursula Hecksteden fasste als Lehrerin am Ort Fuß. Und als es mit dem Verkehr auf Walheims Hauptstraße immer toller wurde, begann auch ihr Mann, der Pendler, sich einzuwurzeln, indem er sich für die Verlegung der B 27 auf den Neckardamm engagierte. "Walheim", definiert Ulf Hecksteden, "ist mein gewählter und freiwillig beibehaltener Aufenthaltsort, an dem ich mich wohl fühle." Von Heimat würde er nicht unbedingt reden. Man drückt sich nüchtern aus im Zeitalter weltweiter Migration. Ähnlich pragmatisch scheinen die Einheimischen zu begreifen, dass ihr Dorf ohne die Neuen und das Neue nicht überleben kann. Ohne städtische Einkommen, ohne Gewerbesteuer, die das Dampfkraftwerk zahlt. Es wäre wenig zu beklagen, betrieben die Neckarwerke nicht auch ein Atomkraftwerk, 3,5 Kilometer Luftlinie entfernt.
Die Toten und die Lebenden.
Zwei, drei Mal im Jahr wird der Castor, von Neckarwestheim kommend, in Walheim auf die Schiene gesetzt. Nur wenige Walheimer protestieren wie Frieder Müller, die Mehrheit schweigt. Untergründig aber ist die Bedrohung da. Im kleinen Bangen um den Spar-Laden, wie lange der Bäcker durchhalten wird, der alte Arzt schwingt immer das große Andere mit: Unser Walheim ist nicht unverwüstlich. Bis jetzt allerdings hat es sich gut gehalten. Im Vergleich zu Dörfern, die im Abseits dahinsiechen, von der Stadt gefressen oder selbst zum Stadtimitat werden. Frieder Müller gibt dem Dorf "noch dreißig Jahr". Wesentlich für seine Existenz sei etwas Unsichtbares: die Geschichten, die man voneinander weiß und weiterträgt. "Frieder ist der Enkel vom Wilhelm, den ein Hallodri von Vetter ins Unglück stürzte...", so ähnlich. Das alte Backhaus, das fünf, sechs Frauen einmal die Woche benützen, ist so ein Geschichtenort. Ein Außenseiter wie Max Lansche ist wichtig, der ehemalige Totengräber. In jungen Jahren Fremdenlegiönar, bekennender Ungläubiger: "Ich glaub nix. Die Bibel ist ein Märchenbuch." Niemand kennt Walheim so intim, in fast jedem Haus hat er Verstorbene gewaschen, aufgebahrt und zur letzten Ruhe begleitet. Der Eigensinn des Dorfes: Das ist Geselligkeit und Erinnerung. Wer den Friseursalon in der Bahnhofstraße 15 besucht, weiß, was gemeint ist. "Das ist frisörisch anders als in der Stadt, die Kommunikation", sagt Chefin Anita Weiss, stämmig und frohgemut. Bei ihr gibt es noch "Vorwärtswaschen", muss man den Kopf nicht unnatürlich nach hinten verrenken. Treue zur Frisur ist erlaubt, Seelentrost, wenn nötig, im Preis inbegriffen. Im Gespräch wird allerhand umgewälzt, von damals, als der Salon von Anitas Vaters geführt wurde, die Männer zum "Nackenausputzen" kamen und nebenher Most tranken. Von heute. Alltägliches. Politik. In der Nacht nach dem Mauerfall war große Diskussion und dann am 11. September 2001. Und wenn jemand gar zu nostalgisch in die Vergangenheit blickt, kommt bestimmt Frieder Müller zum Bartscheren vorbei und sagt seinen Lieblingssatz: "Das Dorf war nie eine Idylle." Anita Weiss wird in diesem Jahr ihr Friseurgeschäft aufgeben.