Eine massive graue Wand unterbricht das Bild eines Straßenzugs im Hamburger Stadtteil Winterhude. Zwischen Mietshäusern mit stuckverzierten Fassaden, Balkonen und großen Fenstern steht ein mehrstöckiger Hochbunker. An einem trüben Tag im Spätherbst laden ein paar Handwerker auf der Straße davor Holz von einem Lastwagen und befördern es mit einem Kran auf das Dach des Gebäudes. Dort oben thront ein unfertiges Haus aus hellen Holzpalisaden.
In den letzten Kriegsjahren hatte der Hamburger Gauleiter der NSDAP und Reichsstatthalter Karl Kaufmann zahlreiche Bunker zum Schutz vor Luftangriffen bauen lassen. Seit ein paar Jahren verkauft die Stadt diese an Investoren. Den hier benutzen Musiker seit 1984 als Proberaum. Der Betonklotz hält einem Gutachter zufolge noch 1000 Jahre. Ein solider Baugrund also. Und Basis für ein außergewöhnliches Projekt einer außergewöhnlichen Handwerksfirma.
„Den Kran darf ich nicht benutzen“, sagt Patrick Keller, ein kräftig gebauter Mann mit großen Händen, kleinem Kopf und weit auseinanderstehenden Augen, beim Abladen. „Aber sonst darf ich alles machen.“ Patrick Keller, 30 Jahre alt, wird von seinen Kollegen behandelt wie jeder andere Mitarbeiter auch. Und er packt an wie jeder andere auf dem Bau auch. „Der Patrick ist mein bester Mann“, sagt sein Kollege Karsten Zeidler, grauer Haarkranz, Schnauzbart und blaue Augen. Nur eines unterscheidet Keller von den anderen auf der Baustelle: Er ist schwerbehindert, er hat eine starke Lernschwäche.
Wenige Minuten später steht Keller auf dem Dach des Bunkers, schiebt den Unterkiefer vor und schaut seinen Kollegen Zeidler mit großen Augen fragend an. „Mach da vorn mal ’ne PU-Folie drauf“, sagt Zeidler und zeigt in Richtung Rohbau. Keller überlegt kurz, nickt und klettert behände über das Gerüst auf das Gebäude.
Früher war Keller Landschaftsgärtner in einem Behindertenzentrum. Das hat ihm zwar gefallen, aber irgendwann wollte er mehr machen. Richtig anpacken. Am besten etwas mit Holz. Also hat er eine vereinfachte Ausbildung zum sogenannten Holzwerker absolviert. Der Theorieteil entfällt dabei.
Dass Keller trotz seiner Lernbehinderung nicht in einer Werkstatt für Behinderte sitzt, sondern an preisgekrönten Ökohäusern baut, hat er nicht nur seinem Ehrgeiz zu verdanken. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert die vollständige Integration von behinderten Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Keller arbeitet seit 2007 bei der Stuttgarter Firma Nintegra, einem von rund 80 Integrationsbetrieben in Baden-Württemberg. Deutschlandweit existieren etwa 800 dieser Betriebe mit rund 10 000 Beschäftigten. Träger von Nintegra sind ein Sozialunternehmen und ein Behindertenzentrum. Obwohl fast die Hälfte der rund 20-köpfigen Belegschaft schwerbehindert ist, ist der Betrieb lukrativ. Mit der Produktion von ökologischen Massivholzgebäuden, die aus einem Stecksystem ohne Leim und Metall zusammengebaut werden, steigert der Betrieb seit einigen Jahren stetig seinen Umsatz. 2014 belegte er den dritten Platz bei einem Nachhaltigkeitswettbewerb.
„Des isch mir wichtig, dass die Leut mit mir zufrieden sind“
„Hast du ’nen Torx 40er Bit?“, fragt Zeidler seinen Kollegen Keller. Der hält inne, denkt kurz nach, greift dann zielsicher in den Werkzeugkasten, steckt den Bohreraufsatz ein und klettert wieder zurück in das halbfertige Gebäude. „Und, krieg ich ihn auch?“, fragt Zeidler nachdrücklich. „Nee!“, ruft Keller. „Wie nee?“ – „Nee!“, antwortet er breit grinsend. Manchmal versteht er die Anweisungen von Zeidler nicht – und manchmal tut er nur so. „Ich sollt den doch nur feschthalte!“, schwäbelt er mit leiernder Stimme. Dann lacht er.
Der Fotograf
###drp|tDAUoPVpEZIK5MD_2vz5b2xZ00140775|i-43|Foto: Phillip Götz|###Paul Koncewicz, 32, hat in Bielefeld Fotografie studiert und lebt in Hamburg. Den sonnigen Tag über den Dächern der Stadt hat er mit diesen besonderen Handwerkern sehr genossen
Zeidler ist seit acht Jahren bei Nintegra und arbeitet ebenso lange mit Keller zusammen. Zuvor war er als Zimmermann um die halbe Welt gereist, jahrelang. Über einen Freund kam er zu Nintegra. Mit Behinderten hatte er davor noch nie gearbeitet. „Am Anfang ist das schon schwierig gewesen“, sagt Zeidler. „Manchmal sind die ausgerastet. Oder ich hab manches 20 Mal erklärt, bis es ankam.“ Er kratzt sich am Kopf und sagt: „Aber ich glaube, dass ich jetzt akzeptiert bin. Die mögen mich.“
Bei Integrationsbetrieben besteht die Belegschaft zu mindestens 25 und höchstens 50 Prozent aus Schwerbehinderten. Die Betriebe sollen Menschen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum Chancen hätten, eine Beschäftigung ermöglichen. Zugleich sollen sie ihre Mitarbeiter darauf vorbereiten, den Sprung auf den regulären Arbeitsmarkt zu schaffen. Allerdings müssen auch Integrationsbetriebe auf dem freien Markt bestehen. Nach dem Sozialgesetz sind eigentlich alle Betriebe und öffentlichen Arbeitgeber, die mehr als 20 Mitarbeiter beschäftigen, verpflichtet, fünf Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten zu besetzen. Dafür erhalten die Arbeitgeber von der Arbeitsagentur einen sogenannten Eingliederungs- und Lohnkostenzuschuss. Je nach Alter und Schweregrad der Behinderung kann die Förderhöhe bis zu 70 Prozent des Gehalts betragen, um die Minderleistung auszugleichen.
Trotzdem waren im Oktober 2015 etwa 174 000 Schwerbehinderte ohne Anstellung. Und das, obwohl sich laut Arbeitsagentur unter den schwerbehinderten Arbeitslosen mehr Fachkräfte finden als unter den Nichtbehinderten. 3,2 der insgesamt 7,5 Millionen Schwerbehinderten in Deutschland sind im erwerbsfähigen Alter. Zwar haben immer mehr Schwerbehinderte in den vergangenen Jahren einen Job gefunden, dennoch gelingt ihnen das deutlich seltener als Nichtbehinderten.
Unternehmen, die keine oder zu wenige behinderte Arbeitnehmer beschäftigen, müssen eine Ausgleichsabgabe an das Integrationsamt zahlen, für jeden nicht besetzten Platz monatlich zwischen 125 und 320 Euro. Je weniger Behinderte sie einstellen, desto stärker steigt der Betrag. Der Erlös hilft, Schwerbehinderte anderswo in Jobs zu bringen. Integrationsprojekte und Firmen, die Behinderte anstellen, können mit diesen Mitteln ihren Betrieb erweitern, modernisieren, besser ausstatten.
„War Pause, dass du schon wieder alles vergessen hast?“
Stuttgart-Zuffenhausen. Unweit der Porsche-Niederlassung befindet sich der Sitz von Nintegra. In der langen Werkstatthalle riecht es nach Holz. Sägespäne und Holzstaub liegen in den Ecken. Kreissägen kreischen. In der Halle fügen mehrere Mitarbeiter ein Palisaden-modul für eines der Häuser zusammen. Aus einem Radio tönt „I want to break free“ von Queen. Patrick Keller singt mit, während er sichtlich gut gelaunt schwarzes Spannband auf eine Holzfläche tackert. „Ich hab gesagt: Nur oben festmachen!“, ermahnt ihn ein Mitarbeiter. Keller sieht verblüfft auf, stemmt die Hände in die Hüften und betrachtet nachdenklich sein Werk. „Du machst mich verrückt“, sagt er kopfschüttelnd. „War Pause, dass du schon wieder alles vergessen hast?“, bohrt der Mitarbeiter nach. Die Kollegen kichern. „Kadaschdrofe!“, entgegnet Keller und fängt umstandslos von vorne an. Solche Fehler unterlaufen ihm ab und an.
Nur wenig später balanciert er einen großen Holzstapel auf einem Gabelstapler zielsicher durch die Halle. Keller hat schon vor einigen Jahren einen Gabelstaplerführerschein für die Firma gemacht. Zu zeigen, was er kann, macht ihn offensichtlich sehr glücklich.
Die Integrationsämter fördern auch reguläre Betriebe, wenn sie Arbeitsplätze für Behinderte schaffen. Benötigt ein Unternehmen einen neuen Gabelstapler und stellt einen arbeitslosen Schwerbehinderten als Fahrer ein, gibt das Integrationsamt Geld zum Fahrzeugkauf dazu. Wird zusätzliche Ausstattung benötigt, hilft auch die Arbeitsagentur.
Gemütlich geht es auch hier nicht zu
Um die Arbeit behindertengerecht zu gestalten, brauchen die Betriebe barrierefreie Toiletten und besondere Arbeitshilfen. Viele Arbeitsschritte müssen vereinfacht werden. Bei Nintegra betreut Bereichsleiter Rolf Kaltenberger die behinderten Kollegen. Der kahlköpfige Mann mit ergrautem Kinn- und Schnauzbart ist gelernter Ergotherapeut.
Der Autor
###drp|2AZ8UXxpgJtyr36cL7Tmz0fP00124042|i-43|Foto: Dorothee Hörstgen|###Michael Güthlein, 1990 geborener Volontär des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik, war erstaunt über den rauen, aber herzlichen Umgangston auf der Baustelle
Integrationsfachdienste vermitteln Absolventen von Förderschulen in Praktika. Marktwirtschaftliche Regeln gelten auch hier. „Die Rechnung muss stimmen“, sagt Kaltenberger schulterzuckend. „Wenn einer ein Praktikum bei uns macht und es klappt nicht mit ihm, dann übernehmen wir ihn nicht.“
Angestellte mit Behinderung genießen einen stärkeren Kündigungsschutz. Sie zu entlassen, geht nur mit Zustimmung des Integrationsamtes. Auch die nichtbehinderten Mitarbeiter werden sorgfältig ausgewählt. Sie müssen zwar keine Erfahrung mit behinderten Kollegen mitbringen. Aber manche Bewerber hoffen, dass es in einem sozialen Betrieb gemütlich zugeht. „Diesen Zahn versuche ich ihnen früh zu ziehen. Wir haben genauso einen starken Auftragsdruck wie alle anderen Betriebe auch.“
Die Zukunft des Betriebs sieht Kaltenberger optimistisch: „Für jedes Problem gibt es eine Lösung, und wir sind gut im Probleme lösen!“ Patrick Keller hat sich mittlerweile über Nintegra hinaus einen guten Ruf erarbeitet. Es habe bereits Versuche gegeben, ihn abzuwerben, sagt sein Bereichsleiter Kaltenberger. Stolz über die Erfolge seines Kollegen schwingt in seiner Stimme mit.
Patrick Keller schiebt nur das Kinn vor, schüttelt den Kopf und sagt: „Ich bin gern hier. Ich will nicht gehen.“