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Eine alte Lehrerin, fromm und dem Tode nahe, kam gegen das Gefühl ihrer Lebensschuld nicht mehr an. Sie war eine gute Lehrerin, hingegeben an ihre Arbeit und an Menschen. Trotzdem war sie gequält von Gefühlen, dem Leben alles schuldig geblieben zu sein. Von einem Freund bekam sie einen Brief, der eine Interpretation dieses Textes aus dem Römerbrief ist. Ich zitiere daraus:
"Du hast gesagt: ‚Vor meinem inneren Auge sehe ich dauernd, was ich im Leben falsch gemacht habe.‘ Ich kenne diesen Schmerz des Alters, nicht mehr nachholen zu können, was man versäumt hat, und nicht gutmachen zu können, was man schlecht gemacht hat. Mich stört an Deinem Satz nur das ‚dauernd‘. ‚. . . sehe ich dauernd . . .‘, schreibst Du. Wenn ich etwas von Gnade verstehe, dann heißt das: Wir sind am Ende, die wir sind – mit allen Wunden, mit aller Schuld, mit allem Gelingen. Gnade heißt: Ich muss kein Urteil über mich sprechen, weder ein gutes noch ein verdammendes.
Fulbert Steffensky
Ich muss mich nicht rechtfertigen. Das alte theologische Wort ‚Rechtfertigung‘ war mir immer sehr wichtig. Erinnerst Du Dich an Kafkas Prozess Roman?
K. wird an seinem 30. Geburtstag vom Gericht befohlen, alle wesentlichen Momente seines Lebens aufzuzählen und zu bewerten; sich also zu rechtfertigen. ‚Und je mehr er jetzt zu seiner Rechtfertigung tun will, desto ungerechtfertigter kommt er sich vor. Das führt zum Entzug der Lebenserlaubnis, zu der von ihm selbst veranstalteten Selbsthinrichtung‘, so Martin Walser über die Figur aus Kafkas ‚Schloss‘.
Ist Dein Satz ‚Vor meinem inneren Auge sehe ich dauernd, was ich falsch gemacht habe‘ nicht eine Art Selbsthinrichtung? Wer gibt Dir die Erlaubnis dazu? Jedenfalls nicht der, der uns richtet. Wenn ich eins von diesem Christentum verstanden habe, dann ist es der Gedanke: Wir müssen uns nicht bezeugen! Sich selbst bezeugen hieße ‚im Fleisch‘ leben. Wir müssen nicht Zeugen unserer selbst sein, auch nicht die Zeugen gegen uns selbst. Einer meiner Lieblingssätze aus dem Römerbrief (8,16): ‚Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.‘ Kann man mit diesem wunderbaren Satz nicht alle Versuche der Selbstrechtfertigung und Selbstverdammung ausräuchern?
Es ist eine der schwersten Aufgaben, an die Gnade zu glauben und die Selbsthinrichtung zu unterlassen. Das vertreibt nicht den Schmerz über das Stückwerk Leben. Aber könnte es nicht eine Grundheiterkeit geben, die dem Schmerz seine bannende Kraft nimmt? Die verwundete Heiterkeit, die dieser Satz aus dem Römerbrief lehrt: Der Geist gibt Zeugnis, nicht wir selbst. Wir sind, die wir sind, am Ende unseres Lebens, mit Narben bedeckt und angesehen vom Blick der Güte.
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Sieh Dich nicht an! Lass Dich ansehen von Gott! Lass Dich auch von uns ansehen, denen Du Deine Freundschaft geschenkt hast; von den Schülern und Schülerinnen, denen Du Goethe und den Konjunktiv beigebracht hast! Du hast kein Recht, Dich gegen den großen Blick der Güte zu wehren und gegen unsere kleinen Blicke der Dankbarkeit.
Sich in der Selbsthinrichtung einzurichten – ist das nicht eine Art negativer Eitelkeit?
Du warst uns viel; Du warst uns nicht alles, das ist wahr. Du warst Menschen viel, Du warst ihnen nicht alles. Und Du musstest ihnen nicht alles sein. Nur Gott ist alles, nicht Du. Welche Lebenserleichterung, wir müssen nicht alles sein!
Ich weiß, dass der Gedanke der Gnade nur schwer ankommt gegen unsere eingefrästen Selbstauffassungen. Aber er kann sie relativieren, er kann uns heiter machen im Schmerz. Es kann ja sein, dass zu unserer Humanität gehört, sich selbst zu beweinen. Aber noch mehr und noch größer ist, sich selbst zu belächeln. Und Gott lächelt mit."
Eine erste Version des Textes erschien am 8. Juni 2014.
So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes . . . Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er . . . auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.
Rechtschreibung in Qualitätsmedien
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Sehr geehrte Damen und Herren der Chrismon-Redaktion,
ich kann verstehen, dass Theologen handwerkliche Begriffe der deutschen Sprache weniger geläufig sind als lateinische oder griechische Fremdwörter. Von Akademikern erwarte ich jedoch angemessene Sorgfalt, wenn sie sich auf sprachlich ungewohntes Terrain begeben. Das Partizip von "fräsen" schreibt man mit s, nicht mit ß, und so schrieb man es auch schon vor den Rechtschreibreformen der letzten 25 Jahre. Von einem Qualitätsmedium erwarte ich ein sorgfältiges Lektorat vor jeder Veröffentlichung. In diesem Fall hätte die Nutzung einer automatischen Rechtschreibkontrolle genügt.
Mit freundlichen Grüßen
Ingo Spruytenburg
Der Glaube an die Rechtschreibprüfung
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Sehr geehrter Herr Spruytenburg,
Ihr Kommentar zu dem vor 5 Jahren veröffentlichten Artikel bringt einen falschen Glauben an die Rechtschreibprüfung zum Ausdruck. Der deutschen Rechtschreibprüfung des Textverarbeitungsprogramms des internationalen Marktführers ist zwar bekannt, dass es gefräst und nicht gefräßt heißt. Die Rechtschreibprüfung kennt aber das Wort einfräsen nicht. Ob zu Recht oder nicht, will ich jetzt nicht weiter erörtern. Deshalb moniert es sowohl eingefräst wie auch eingefräßt. Da die Rechtschreibprüfungen in der Standardeinstellung nur darauf hinweisen, dass in einem Wort ein Fehler steckt, aber nicht sagen, welcher, könnte der Autor oder der Lektor den Warnhinweis als ein möglicherweise unberechtigtes Meckern über das Wort einfräsen aufgefasst haben und das auf jeden Fall falsche ß trotz Einsatzes einer Rechtschreibprüfung nicht wahrgenommen haben.
"Vor meinem inneren Auge sehe ich dauernd, was ich im Leben falsch gemacht habe." Da bin ich nicht dabei. Vor meinem inneren Auge sehe ich aber, dass der Glaube an die segensreichen Wirkungen der Rechtschreibprüfung in die Irre führen kann.
Mit freundlichen Grüßen
Traugott Schweiger