Kinder trainieren im Sportstadion von Molenbeek. Der Trainer Raf Wyns setzt auf die integrative Wirkung dieses Programms.
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Brüssel bleibt bunt
Ragna von Glasenapp mit einer E-Mail aus Belgien
Foto: Privat
06.01.2016

Als wir vor zehn Jahren nach Brüssel zogen, fiel uns als erstes das bunte Völkergemisch auf den Straßen auf. In der europäischen Hauptstadt wohnen Menschen aus aller Welt. Wir kamen sofort mit vielen in Kontakt. Das bunte Treiben regt an, es lässt einen den eigenen Standpunkt hinterfragen und die Perspektive wechseln. Das Sprachgewirr fordert einen heraus. 

Die Belgier scheinen dieses Multi-Kulti gelassen hinzunehmen. Sie sind gewöhnt, unter Kollegen und Nachbarn viele „Fremde“ zu haben. Man bemüht sich sehr, soweit nötig, die Sprache der anderen zu sprechen, ihm entgegenzukommen, man hält aber auch genug Abstand, damit einen die fremden Gewohnheiten nicht stören.

###autor###Ob in Beruf, Schule, Sportclub – immer wieder machten wir in Brüssel die Erfahrung, dass man sich bestens verstehen kann, auch wenn man keine gemeinsame Sprache spricht, der gleichen Religion angehört oder aus dem gleichen Kulturkreis kommt. Unsere Gemeinde etwa arbeitet mit Vertretern aller Glaubensgemeinschaften gut und eng zusammen. Wir setzen uns zum Beispiel gemeinsam ein für die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen oder auch für den Erhalt des Religionsunterrichts an den Europäischen Schulen.

Die furchtbaren Anschläge in Paris vom 13. November hätten dieses gute Miteinander verändern können. Wir lebten danach unter der höchsten Terrorwarnstufe und im Ausnahmezustand. Der U-Bahnverkehr war eingestellt, der Bevölkerung wurde geraten, nicht in die Stadt zu gehen. Schulen und andere öffentliche Gebäude blieben geschlossen, öffentliche Veranstaltungen und sämtliche Sportereignisse wurden abgesagt, der Flughafen und die Fernbahnhöfe streng kontrolliert.

Vier Meter ist der Zaun um den Kindergarten hoch

Denn viele Ermittlungsergebnisse führten nach Molenbeek-St. Jean, einem Stadtteil im Westen der Innenstadt Brüssels. Das war nicht ganz überraschend. Offensichtlich wurden hier in den vergangenen Jahren schon andere mörderische Terrorakte vorbereitet wie die Anschläge auf das Brüsseler Jüdische Museum im Mai 2014, auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 und auf den Thalys-Zug nach Paris im August 2015, der zum Glück verhindert wurde.

Warum, das ist schwer zu begreifen. Bei einem Spaziergang durch dieses Viertel fällt auf, was auch in den Statistiken der Stadt zu lesen ist. In manchen Gegenden Molenbeeks liegt der Anteil der Bevölkerung mit Wurzeln in den nordafrikanischen Staaten des Maghrebs bei über 80 Prozent. Der durchschnittliche Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund liegt im Großraum Brüssel bei knapp 70 Prozent. Arbeitslosigkeit, besonders unter Jugendlichen, ist extrem hoch. Jugendliche verbringen viel Zeit auf der Straße. Armut prägt ihr Leben. Insofern muss man sich nicht wundern, dass der Zaun um einen Kindergarten vier Meter hoch ist, um ihn vor Diebstahl zu schützen. Die Lehren der Islamisten fallen in Molenbeek offenbar auf fruchtbaren Boden. Von hier aus reisen immer wieder Jugendliche nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen und kommen natürlich auch wieder zurück.

Nach den Anschlägen in Paris machten sich unsere Familien und Freunde in Deutschland natürlich Sorgen. Wir hier in Brüssel aber rückten zusammen. Man traf sich nicht in Restaurants, sondern in privaten Häusern. Der Gottesdienst am Ewigkeitssonntag, dem 22. November, fand trotz anfänglicher Diskussion statt und war sehr gut besucht. Die muslimischen Freunde schickten unterstützende SMS und drückten die Daumen, dass die kirchlichen Veranstaltungen trotzdem stattfinden.

Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist durch die Anschläge nicht zerbrochen, sondern noch stärker geworden. Wir alle sitzen hier in einem Boot und lassen uns nicht von einer winzigen Gruppe Fehlgeleiteter terrorisieren. Wir sind uns unserer Freiheit bewusst, bewusst auch, dass wir auf der Sonnenseite leben. Wir werden weiterhin fest an die Einigung Europas glauben und an ihr arbeiten, denn sie sichert Millionen von Menschen ein friedliches Leben. 

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