3. Sonntag nach Trinitatis
Die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
Lukas 15,2­6

Kürzlich traf ich Jesus auf dem Trödel. Zwischen Sammeltassen, alten Schallplatten und muffigen Kleidern. Lange Locken umrahmten sein sanftmütiges Gesicht. Um ihn drängten sich Schafe. Eins davon trug er auf den Schultern. Jesus, der gute Hirte im falschen Goldrahmen. Ein Schnäppchen für Kitschliebhaber oder religiöse Nostalgiker. Wer mit Kirche in Berührung kommt, wird irgendwann zwangsläufig zum Schaf. An der christlichen Bildsymbolik von Christus, dem Menschenhirten, gibt es kein Vorbeikommen. Pubertierende Konfirmanden lernen seit Generationen den 23. Psalm auswendig. Selbst hochbetagte Menschen bringen ihn bei aller Vergesslichkeit noch mühelos über die Lippen: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!"

Im wahren Leben ist längst kein Platz mehr für religiöse Hirtenromantik. Wer kann, lebt sein Leben frei und selbstbestimmt. Ein Hirte ist da überflüssig. Wir Deutsche sind zu Recht misstrauisch, wenn Herdentrieb aufkommt.

Doch Jesu Gleichnis vom guten Hirten erschöpft sich nicht in dieser Kuschelszene. Hier geht es vielmehr ums Suchen. Um die verzweifelte, nervenaufreibende und oft vergebliche Suche nach etwas, was verloren ist. Im 15. Kapitel bei Lukas ist erst vom verlorenen Schaf die Rede, dann vom verlorenen Groschen, um dann endlich auf den Punkt zu kommen: Gesucht wird der verlorene Sohn. Der, der alles falsch gemacht hat: den Vater enttäuscht und verlassen, das Erbe durchgebracht, bei den Schweinen gelandet. Ein Versager, ein Loser, ein Verlierer?

Nein, widerspricht Gott aller menschlichen Logik von Erfolg und Misserfolg: Der verlorene Sohn ist kein Verlierer, sondern ein Verlorener. Und wer verloren gegangen ist, den müssen wir suchen, wie das eigene Kind im Warenhaus. Ihm nachgehen, in jeden Winkel, jede Ecke sehen, sich bücken, auf dem Boden herumkriechen und seinen Namen rufen, bis es gefunden ist. Das wiedergefundene Schaf bekommt nicht die Rute und der verlorene Sohn keine Moralpredigt, sondern am Ende wird gefeiert. Freunde, Nachbarn, Familie ­ alle sind dabei, wenn die frohe Botschaft verkündigt wird: Er ist wieder da! Das Schaf ist wieder bei der Herde, der Groschen wieder im Portemonnaie, der verlorene Sohn wieder im Schoß der Familie. Heute bricht sich der menschliche Herdentrieb an anderer Stelle Bahn. Die Öffentlichkeit ist dabei, wenn schwarze Schafe gesucht werden, es dient der Unterhaltung im Fernsehen und in der Presse. Am Ende muss der Verlierer gehen, der Schuldige die Konsequenzen ziehen. Weggegangen ­ Platz vergangen!

So aber, sagt Jesus, soll es unter uns nicht sein: Wer sein Kind im Kaufhaus wiederfindet, verpasst ihm keine Ohrfeige. Wer vor den Trümmern seines Lebens steht, braucht keinen Fußtritt mehr. "Freut euch mit mir!", sagt der Hirte seiner Herde. Nicht über die Fehler der anderen, sondern über ihre Rückkehr.