Thies GundlachJens Schulze / epd-bild
20.10.2010
Kantate
Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.
Matthäus 11,28-29

An welchem Tag mag Gott die Musik erschaffen haben? An welchem seiner sieben Schöpfungstage also hat er Barmherzigkeit und Klarheit, Güte und Klang zusammengelegt und seiner Welt das Singen und Klingen beigebracht? Ich sehe drei Möglichkeiten. Gott könnte gleich am ersten Tag der Schöpfung die Musik erschaffen haben. Durch die Unterscheidung von Himmel und Erde geht gleichsam der Trichter des kosmischen Sternengesanges auf. Alle Musik, die seither gehört, gemacht und genossen wurde, ist Musik des Ursprungs, Gesang aus der Tiefe des Universums, Klang aus der Sehnsucht des Kosmos. Die Zahlenordnungen der Gestirne klingen auf in den auf den Linien tanzenden Noten. Das alles hieße: Musik ist eine Güte der Schöpfung.

Zweitens: Gott ließ die Musik am letzten Tag erstehen, am siebten Tag der Schöpfung, dem Sabbattag, als Gott erschöpft war und genussfähig wurde, als er einsah, dass alles sehr gut war und er sich von allem zurücknahm und es wohlwollend betrachtete. Da ging Gott das Ohr auf und er hörte die Jubelklänge der Geschöpfe, er genoss die Symphonie alles Lebendigen und tauchte ein in den Glanz des Staunens, den die erschaffene Welt in den Himmel singt Tag für Tag. Musik also als Klang der Vollendung.

Drittens: Gott hat die Musik am sechsten Tag erschaffen, zusammen mit uns Menschen, weil wir der Resonanzraum sind, den jede Musik braucht. Weil wir das Ohr sind, das jede gute Musik verdient, und weil nur der Mensch die Klänge der Schöpfung hinaufwerfen kann an den Himmel als Dank und Staunen. Musik also als Anfang der Erlösung. Und der Mensch in der Rolle jener alten, wunderschönen Schelllackplatten, in denen die Musik eingraviert ist wie bei einem Siegel und sie immer wieder herauszulocken aus diesen kleinen schwarzen Rillen, denen man die mitunter gewaltigen Klänge irgendwie gar nicht richtig zutraut.

Wie immer die Schöpfung der Musik geschah, sicher ist dies: Gott hat sie ins Leben gerufen, um eine kultivierte Form des Jubelns zu eröffnen. Musik ist in jedem Fall eine Himmelsgabe, weil sie etwas kann, was die Welt reich und die Seele weit macht: Musik kann berühren und aufrichten, klagen und lachen, weinen und loben, erleichtern und vertiefen. Für alle Höhen und Tiefen des Menschen gibt es einen Klang, einen Ton, eine Melodie aus dem universellen Reich der Musik.

In diesem Sinne erfüllt die Musik wie kaum ein anderes Tun der Kirche den tröstenden Ruf an alle (!) Mühseligen und Beladenen, denn sie kann heilen, sie kann Wunden stillen und Narben weich machen, Stricke des Herzens und Fesseln des Geistes lösen. Und sie kann dies auch dort, wo die Sprache des Glaubens auf taube Ohren stößt und das Wort vom Kreuz ungehört verklingt. Wie oft kommen nach Hektik und Alltag, nach Anstrengung und Ärger, nach Verspannung und Vergeblichkeit, nach Krise und Angst Menschen in Kirchen, hören Klänge und Konzerte und spüren plötzlich: Die Ohren zum Himmel sind offen und die religiöse Musikalität der Seele ist wieder befreit.

Wie viele lichte Höhen mögen schon auf den Tönen eines Satzes von Johann Sebastian Bach erklommen worden sein? Und wie viele neue und gute, freie und liebevolle, barmherzige und ehrliche Gedanken haben Einlass bekommen in unsere Welt, in unsere Familien und Beziehungen, weil die Engel der Töne sie hineingetragen haben? Deswegen sollten wir am Sonntag Kantate genau das tun, was uns der Name des Sonntags zuruft: Singen!