Foto: Gepanzerte Mannschaftswagen Israels außerhalb des nördlichen Gazastreifens am 18. Juli 2014. Ronen Zvulun / Reuters
Vom Mord zum Krieg
Drei jüdische Schüler werden im Westjordanland entführt und umgebracht. Anderswo würde die Kriminalpolizei ermitteln und Verdächtige festnehmen. Im Nahen Osten entsteht aus einem Verbrechen ein neues. Warum?
30.07.2014

Was geschah nach der Entführung der Jungen?

Eine Handvoll Extremisten ziehen die Region in einen ­neuen Teufelskreis der Gewalt – eine Chronologie.

12.6.
Eyal Ifrach, Gilad Schaer und Naftali Frenkel, drei israelische Teenager, werden entführt und ermordet.

14.6. Israels Armee riegelt auf der Suche nach den Jungen das südliche Westjordanland ab. Regierungschef Netanjahu macht die islamistische Hamas verantwortlich.

19.6. Hunderte Palästinenser werden in einer Militäraktion verhaftet. Ein Sprecher der in Gaza regierenden Hamas erklärt, Israel habe „das Tor zur Hölle geöffnet“. Der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen nimmt zu. Fünf Hamas-Kämpfer machen sich durch einen Tunnel auf zum Terroranschlag nach Israel, doch der Tunnel stürzt ein.

26.6. Israels Geheimdienst nennt die Namen der mutmaßlichen Entführer aus Hebron, sie gehören der Hamas an.

30.6. Die Leichen der drei Teenager werden nördlich von Hebron aufgefunden. Is­raels Luftwaffe fliegt den ersten Angriff auf Gaza.

1.7. Ein 16-jähriger Palästinenser, Mohammed Abu Chedair, wird als vermisst gemeldet.

2.7. Mohammed Abu Chedairs Leiche wird halb verkohlt aufgefunden, ein willkürlicher Rachemord, verübt von einem ultraorthodoxen Juden. Erzürnte Paläs­tinenser demonstrieren, werfen Steine und setzen Autos in Brand.

7.7. Israels Regierung entscheidet, den Süden des Landes mit einer neuen Militär­operation „zu beruhigen“, wie es heißt. Sie mobilisiert Hunderte Reservisten für eine Bodenoffensive.

9.7. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas von der säkularen Fatah wirft Israel „Völkermord“ im Gazastreifen vor.
 

Was halten die Bürger vom Krieg?

Die Palästinenser wollen keine neue Gewaltwelle, die Israelis sind wohl mehrheitlich für Luftangriffe.

Unter Palästinensern stieß es weitgehend auf Genugtuung, dass die drei israelischen Jugendlichen entführt wurden. Sie hatten eine Talmudschule besucht, die im von militanten Siedlern besetzten Teil Hebrons liegt. Dennoch lehnen die Menschen im Gazastreifen und im Westjordanland eine neue Gewaltwelle ab. Sie wollen nur friedlichen Widerstand in Form von Demonstrationen und Streiks gegen die Besatzung. 70 Prozent der ­Palästinenser im Gazastreifen befürworteten, am Waffenstillstand mit Israel festzuhalten, stellte das „Washington Institute“ in einer Umfrage Ende Juni fest. Für die Dauer des Konflikts solidari-
siert sich die Bevölkerung mit der eigenen Führung. Auch wurde bis Mitte Juli keine Kritik gegen das ­kämpferische Vorgehen der Hamas laut.

Eine aktuelle Umfage unter Israelis gab es bis Mitte Juli nicht. Doch heute wird das Meinungsbild ähnlich wie 2012 sein, als 90 Prozent von Israels ­jüdischer Bevölkerung in ähnlicher Lage gezielte Bombardierungen von Hamasstellungen im Gazastreifen aus der Luft befürworten.

Vor fünf Jahren schickte die Regierung von Ehud Olmert auch schon einmal Truppen nach Gaza  und konnte damit ihre Popularitätswerte steigern. Heute genießt die Regierung von Benjamin Netanjahu ein merklich größeres Vertrauen in der israelischen Bevölkerung. Dennoch: Eine Bodenoffensive lehnt vermutlich auch heute – ähnlich wie bei der Umfrage von 2012 – eine Mehrheit ab.

Wer verfolgt welche politischen Interessen?

Die Hamas liefert Israels Minister­präsidenten ein Alibi für seine starre Haltung gegen einen Friedensschluss.

Die moderate Palästinenserpartei Fatah will Frieden und erkennt Israels Existenzrecht an. Die radikale Hamas will alle Juden mit Waffengewalt vertreiben und „ganz Palästina“ befreien. Doch die Hamas verlor nach und nach ihre internationalen Geldgeber. Sie kann ihre Bediensteten nicht mehr ­bezahlen und hat sich zwei Wochen vor der Entführung auf eine Einheitsregierung mit der Fatah eingelassen. Ihr Kalkül: Die Fatah werde finanziell einspringen. Im erneut entflammten Konflikt will sich die Hamas wieder als kämpfende Widerstandsbewegung in Erinnerung bringen. Sie hat nämlich Konkurrenz. Noch radikalere Kräfte propagieren Militanz gegen Israel und gewinnen an Popularität.

Netanjahu behauptete gleich nach der Entführung, es gebe einen Zusammenhang zwischen dem Verbrechen und der Bildung der palästinensischen Einheitsregierung. Er lehnt jede Kooperation mit der Hamas ab und ­fordert vom säkularen Präsidenten ­Abbas, das Bündnis zu widerrufen.

Israelische Oppositionelle kritisierten, Netanjahu instrumentalisiere die Entführung für politische Zwecke. Der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen liefere ihm die Chance, die Schuld fürs Scheitern von Friedensverhandlungen den Palästinensern zuzu­schieben. Aus internationaler Sicht scheitern Friedensverhandlungen schon seit ­langem deshalb, weil Netanjahu jüdische Siedlungen im Westjordanland bauen lässt.

Kommt der Nahe Osten je zur Ruhe?

Kaum. Die Bevölkerung in Israel und Palästina wächst und wächst – und kämpft um wenig Land.

Israel ist seit der Staatsgründung exis­tenziell bedroht, es musste viele lebensbedrohliche Krisen überstehen. Langfristige Strategien für dauerhaften Frieden erscheinen bis heute nachrangig. Die Umwälzungen in den Nachbarstaaten bestätigen die Regierung in Jerusalem darin, an Bekanntem festzuhalten.

In Israel und Palästina wächst der Bedarf an Wohnraum. Es kommen viele jüdische Einwanderer. Unter jüdischen Orthodoxen und arabischen Israelis sind die Geburtenraten hoch. Schon jetzt ist die Bevölkerungsdichte mehr als anderthalb Mal so hoch wie in der Bundesrepublik. Auch deshalb lässt das Bauministerium Siedlungen im palästinensischen Westjordanland bauen, wo die Geburtenraten sogar noch höher sind als in Israel. Das verhindert eine mögliche Dauerlösung: Israel und Palästina in zwei Staaten auseinanderzudividieren.

Hinzu kommt ein Wohlstandsgefälle zwischen Israelis und Palästi­nensern. Das israelische Durchschnittseinkommen ist etwa dreimal so hoch, wie das palästinensische. Israel kontrolliert die meisten Wasserquellen. Es profitiert von dem zur Hälfte auf palästinensischem Gebiet liegenden, an Mineralien reichen Toten Meer, Paläs­tinensern bleibt der Zugang verwehrt.

Je länger der Konflikt dauert und je mehr Opfer er fordert, desto mehr verfestigt sich der Hass auf beiden Seiten. In den vergangenen 15 Jahren starben über 5000 Menschen infolge kriegerischer Handlungen, mehr als drei Viertel von ihnen Palästinenser.

Was hat die Religion mit alledem zu tun?

Relativ kleine radikal-religiöse Parteien haben auf beiden Seiten großen politischen Einfluss.

Religiöse Überzeugungen können Bewegungen ideologisch festigen: in Israel, Palästina, überall auf der Welt. Die nationalreligiöse Partei war früher gemäßigt links und zionistisch. Heute beansprucht sie das Westjordanland und begründet dies damit, dass Gott den Juden in der Bibel das Land Israel verspricht. Das national-religiöse Lager mit der Siedlerbewegung wächst derzeit nicht unbedingt, wird aber radikaler. Bei den letzten Wahlen erreichte es zwölf Parlamentsmandate und stellt mehrere Minister.

Die Charedim, Gottesfürchtige, stellen in Israel rund zehn Prozent der Bevölkerung. Sie lehnen den Zionismus ab. Den Staat Israel zu gründen sei Aufgabe des Messias, sagen sie. Dennoch beziehen sie Sozialleistungen und stellen sich in ultraorthodoxen Parteien zur Wahl. Sie sind nicht in der Regierungskoalition vertreten. Sie gelten als sehr rassistisch.

Arabische Muslime vergleichen Israel oft mit dem mittelalterlichen Kreuz­fahrerstaat im 12. und 13. Jahrhundert, der schließlich besiegt wurde. Die Hamas, ein Ableger der ägyptischen Muslimbrüder, bildet mit einigen Zig­tausend Aktiven im Gazastreifen die größte radikal-islamische Bewegung. Sie hat einen politischen und einen militanten Zweig, der sich als Kampftruppe gegen Israel versteht. Sie will einen palästinensischen Staat auf dem gesamten Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer, in dem Scharia-Recht gilt.

Gleiches will die zweitgrößte radikal-islamische Gruppe, der palästinensische Islamische Dschihad. Sie hat nur einige Tausend Anhänger. Ideologisch ist sie enger als alle anderen Bewegungen im Gazastreifen an den schiitischen Iran gebunden – auch wenn palästinensische Muslime fast ausschließlich Sunniten sind.

Eine dritte Gruppe sind die Salafisten mit vermutlich nur einigen Hundert bis etwas über tausend Aktivisten. Mili­tante Aktivisten aus dem Ausland unter­stützen sie. Die Salafisten sind einem angeblich ursprünglichen, reinen Islam verpflichtet, der sich durch den Kampf eigenständig operierender Gruppen ausbreitet. Ihre Weltanschauung ähnelt der von ISIS in Syrien und im Irak und der von Al-Kaida.

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