Luise, 5, hat gerade ihr Seepferdchen gemacht. Nach den Kriterien des Bundesverbandes zur Förderung der Schwimmausbildung muss man dafür vom Beckenrand ins Wasser springen und 25 Meter schwimmen, der Stil ist egal. Und man muss aus schultertiefem Wasser einen Gegenstand mit den Händen vom Grund heraufholen. Mutter oder Vater hatten das Mädchen jeden Mittwochnachmittag ins Hallenbad gebracht, wo ihr der Schwimmlehrer all das beibrachte. Das Seepferdchen ist keine Garantie gegen das Ertrinken, aber nach menschlichem Ermessen ist die Chance sehr groß, dass Luise es überleben wird, sollte sie jemals ins Wasser fallen.
Schul- und Ausbildungsabschluss sind das Seepferdchen fürs Arbeitsleben. Es ist keine Garantie für Erfolg im Erwerbsleben, wenn man eine Schule abgeschlossen und danach eine Berufsausbildung durchgestanden hat. Aber man hat in der Schule Leistung gezeigt. Man hat mit der Berufswahl signalisiert, dass man weiß, was man will; man hat ein Unternehmen davon überzeugt, dass man der Richtige ist; man hat Durchhaltevermögen bewiesen und dass man sich professionelles Wissen und Können anzueignen versteht. Dieses unsichtbare Etikett trägt der Ausgebildete.
Natürlich kommt es vor, dass Menschen trotzdem keine Arbeit finden. Unternehmen setzen auch bestausgebildete Mitarbeiter auf die Straße, zum Beispiel weil in Rumänen billiger produziert werden kann. Das kommt millionenfach vor in Deutschland. Aber die meisten Betroffenen sind nicht lange arbeitslos. Ohne diese Mindestvoraussetzung ist das dauerhafte Scheitern dagegen so gut wie sicher. Schulabschluss und berufliche Erstqualifikation sind der Slot in die Welt der Arbeit, und man darf ihn nicht verpassen, weil es eine zweite oder dritte Chance kaum gibt.
Wie kann es trotzdem geschehen, dass zum Beispiel Dennis M. bis zu 60 Tage im Jahr den Unterricht schwänzte, ohne dass jemand etwas unternahm; dass er die Hauptschule schmiss, ein Ausbildungspraktikum abbrach? Jetzt, mit 24, hat er sich in Hartz IV eingerichtet und träumt womöglich nicht einmal mehr davon, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Sicher ist derjenige, der für Dennis verantwortlich ist, erst einmal er selbst. Und sicher gibt es Menschen, bei denen man nicht viel machen kann. Aber können sieben, acht Prozent eines jeden Jahrgangs wirklich hoffnungslose Fälle sein? Es ist das größte Armutszeugnis unseres Bildungssystems, dass 70 000 Jugendliche pro Jahr unsere Schulen ohne Abschluss verlassen. Diese 70 000 werden wie Dennis keine Ausbildung machen. Sie werden keine soziale Identität über den Beruf entwickeln können. Ihnen steht, wenn es hoch kommt, eine typische Geringqualifiziertentätigkeit als Leih-Teilzeit-Zimmermädchen oder Erntearbeiter bevor. Meistens aber werden sie arbeitslos sein, weil sie niemals arbeitsfähig geworden sind. Ihnen fehlt das Seepferdchen.
Es ist nicht so, dass nichts dagegen getan würde. Die öffentlichen Hände geben viele Milliarden Euro aus, um zu verhindern, dass junge Leute ins Abseits driften. Es wird zum Beispiel ein sogenanntes Übergangssystem betrieben: Kurse und Trainings für Menschen, deren Übergang von der Schule in die Arbeitswelt nicht glattging. Sie haben keine Lehrstelle gefunden. Vielleicht sind sie beim Bewerbertest in Schreiben, Lesen, Rechnen durchgefallen. Vielleicht haben sie gar nicht richtig gesucht, weil sie keinen Bock hatten. Vielleicht haben sie eine Stelle gefunden, aber die Ausbildung wieder abgebrochen, weil ihnen der Beruf oder der Chef nicht lag.
Im Mai 2010 waren 252 600 Menschen in solchen "Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung". Nur wenige, die diesen Reparatur- und Verwahrbetrieb durchlaufen, erreichen das Ziel, nämlich danach eine Berufsausbildung zu ergattern. So bewirkt das Übergangssystem vor allem, dass die Statistik in einen schöneren Zustand übergeht. Wir sind es gewohnt, dass es nicht genug Arbeit für alle gibt. Ist es da nicht praktisch, dass viele schon früh durch das Sieb fallen? Vermutlich schauen wir deshalb weg, wenn unser Bildungs-, Ausbildungs- und Wirtschaftssystem hunderttausendfach diese Art der Erwerbsunfähigkeit hervorbringt: Menschen, die kein selbstbestimmtes Leben vor sich haben, die niemals für sich selber sorgen können.
Das ist nicht human. Aber wenn wir schon nicht human sind, sollten wir wenigstens rechnen können. Die Demografie ist absolut eindeutig: In einigen Jahren ist nicht die Arbeit knapp, sondern die Arbeitskraft, und zwar die qualifizierte. Das Institut zur Zukunft der Arbeit hat berechnet, wie sich von 2003 bis 2020 der Bedarf an Arbeitskräften voraussichtlich verändert haben wird. Jobs für Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung: minus 800 000; mit abgeschlossener Berufsausbildung: minus 57 000; Meister beziehungsweise Fachschulabsolventen: plus 540 000. Und bei Hochschulabsolventen: weit über zwei Millionen plus.
Wenn nichts geschieht, haben wir 2020 1,3 Millionen mehr ungelernte Arbeitnehmer, als es Jobs für sie geben wird. Und qualifizierte Leute haben wir zu wenig. Immer mehr Länder der Dritten Welt werden sich mit Billigstlöhnen und niedrigen Arbeitsstandards als Produktionsplätze für die Konsumartikel der westlichen Welt anbieten. Aber auch auf anderen Feldern wächst die Konkurrenz: Deutsche Konzerne bauen Autos für den chinesischen Markt selbstverständlich in China, Airbus montiert dort seine Flugzeuge. Die neuen Hochgeschwindigkeitszüge werden sogar komplett im eigenen Lande entwickelt und produziert.
Für den Wirtschaftsstandort Deutschland heißt das: Wir können unseren Wohlstand auf dem Weltmarkt nur mit Innovationen verdienen, und Innovation ist anspruchsvoll. In der Produktion ist in den letzten 20 Jahren ein Drittel aller Arbeitsplätze verloren gegangen - an Osteuropa, an China, an die Automation. Handys, Computer oder Nachttischlampen lassen sich in Deutschland nicht mehr rentabel montieren. In den wissensintensiven Dienstleistungen dagegen gibt es rund ein Drittel mehr Arbeitsplätze als im Jahre 1991. Wo neue Windrotoren entwickelt, Elektroautos für den Massenmarkt tauglich gemacht werden, wo es um Problemlösungen von morgen geht, da ist Boom. Fehlt es an den gesuchten Arbeitskräften für diese Branchen, bleibt Wertschöpfung aus.
Nun gut, dann erwirtschaften wir eben etwas weniger?! Das Problem ist nur: Das können wir uns nicht leisten. 100 Erwerbsfähige kommen gegenwärtig für 65 Junge und Alte auf, im Jahre 2050 wird das Verhältnis 100 zu 89 sein. Mit Geringqualifizierten wird sich die erforderliche Wirtschaftsleistung jedenfalls nicht schaffen lassen. Was wir brauchen, sind mehr gut ausgebildete Fachkräfte, die den immer schnelleren technologischen Wandel nicht nur aushalten, sondern mitgestalten können.
Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass so viele Menschen ohne schulische und berufliche Qualifikation ins Leben gehen. Es gibt auch viele gute Ansätze. Eine Hauptschule schafft es mit einem neuen Konzept, alle ihre Schüler zum Abschluss und in eine Ausbildung zu bringen. Produktionsschulen nach dänischem Vorbild bringen Theorie und Praxis, Unterricht und Arbeit zu Lern- und Erziehungszwecken erfolgreich zusammen, etwa in Ratzeburg, wo Schüler und Lehrer Leichtflugzeugoldtimer aufarbeiten und vermarkten. Immer öfter engagieren sich Mentoreninitiativen für Jugendliche zwischen Schule und Arbeitswelt. Und die Bundesregierung will 3000 Bildungslotsen einstellen.
Das alles mag zwar dazu beitragen, dass wir weniger Verlierer produzieren. Aber es ist allerhöchste Zeit für den großen Wurf: Die Schulen müssen die Weichen auf Prävention stellen - regelmäßige Ganztagsbetreuung, gezielte Beobachtung und differenzierte Förderung von klein auf, Coaching bei Berufswahl, Lehrstellensuche und während der Ausbildung. Wenn das nicht bald gelingt, gibt es einen Grund mehr, den Bildungsföderalismus abzuschaffen. Auch die Wirtschaft ist gefordert. Über die mangelhafte Qualifikation des Nachwuchses zu klagen ist nicht genug. Sie muss ihre Arbeitsprozesse verändern und Berufsbilder erweitern, und zwar so, dass etwas Produktives auch für jene zu tun ist, die für Hochleistungen nun mal nicht das Zeug haben.