Es herrscht Ausnahmezustand in Venezuela – und in unserer direkten Nachbarschaft. Unsere Kirche liegt nur einen Steinwurf entfernt von der Plaza Altamira, einem Platz, auf dem Regierungsgegner seit Wochen demonstrieren, gegen Kriminalität und Warenknappheit und für demokratische Mitbestimmung. Die Polizei stürmte mehrmals das Protestlager. Immer wieder wehen Wolken von Tränengas zu uns herüber. Und wir schrecken vom Knallen der Gummigeschosse auf.
Wochenlange Straßenkämpfe, damit hätte ich nicht gerechnet. Natürlich kenne ich die alltäglichen Probleme Venezuelas. An manche habe ich mich sogar gewöhnt. Ich kaufe das, was da ist. Wenn es Mangelware zu ergattern gibt, greife ich auch zweimal zu. Auf dem Kühlschrank stapeln sich Klo- und Küchenpapierrollen. Ich besitze fünf Kilo Zucker, im Eisfach schlummern zehn Kilo Mehl. Für den Fall der Fälle, man weiß ja nie . . . Dabei ist die Versorgungslage in der Hauptstadt noch bedeutend besser als anderswo, so wurde mir versichert, als ich evangelische Gemeinden im Land besuchte.
Begonnen haben die Proteste im Grenzgebiet zu Kolumbien, rund um die Öl-Metropole Maracaibo. Hier stehen Schwarzhandel und Schmuggel auf der Tagesordnung. Kein Wunder: Die Versuchung ist groß, einen Kanister venezolanisches Benzin, der hier ein paar Cent kostet, für viel Geld ins Ausland zu verkaufen. Der Ruf nach Frieden, Gewaltfreiheit und einer ausreichenden Grundversorgung ging von den Studenten aus, hat sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land ausgebreitet und unsere Gemeinde in Caracas sofort intensiv bewegt. Umso schmerzhafter war es, mit ansehen zu müssen, wie es zu Übergriffen, Verletzten und sogar Toten kam und der verzweifelte Ruf einer jungen Generation im parteipolitischen Streit unterging.
Ein ehrlicher und fairer Dialog scheint in weiter Ferne. Wir haben uns entschlossen, jeden Tag aufs Neue auszuloten, was gerade möglich ist. Wir feiern Gottesdienste, treffen uns, unterrichten in der Schule. Und wir beten, gemeinsam mit vielen anderen um Frieden, Verständigung und Vergebung. Und um Einsicht – nicht nur bei uns.
Venezuela kommt nicht zur Ruhe. Der deutsche Pfarrer beobachtet die Unruhen aus nächster Nähe
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