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Der Anflug der Enten
"Weihnachten bei uns zuhaus" ist eine Sammlung von 21 Geschichten: Autorinnen und Autoren erzählen von IHREM Weihnachtsfest. Bis Heiligabend veröffentlichen wir eine kleine Auswahl daraus. Diesmal erzählt Kirchenhistoriker Christoph Markschies.
Christoph Johannes MarkschiesThomas Meyer/OSTKREUZ
06.12.2013

Ich beschäftige mich schon von Berufs wegen das ganze Jahr mit Religion, aber Advent, Weihnachten und die Unterbrechung des Alltags, die sie bedeuten, sind etwas ganz Besonderes für mich. Plötzlich kommt da alles, was ich über das Jahr mache, der ganze hektische Betrieb des Alltags, in den ich mich verwickle oder verwickelt werde, zum Stehen. Ich sitze einfach nur still da, das Herz und alle Sinne sind erfüllt vom Strahlen der Kerzen; ich bin fröhlich. Es strahlen aber nicht nur die Kerzen, alles strahlt und wärmt mich. Das ist eine ganz und gar heilsame Unterbrechung, die gegen Ende des Jahres einfach passiert, ohne dass ich irgendetwas dafür tun muss. Oft stürze ich aus dem Alltag, aus dem laufenden Semester regelrecht hinein in die Ruhe, das Tempo verlangsamt sich plötzlich. So wie bei Enten, die landen. Das Tempo wird bei der Landung mit den kleinen vorgestreckten Füßchen, den Rudern, abgebremst und dann sitzen die auf dem Wasser und schauen fröhlich umher.

In den allerfrühesten Weihnachtserinnerungen hatte der festlich geschmückte Tannenbaum im elterlichen Wohnzimmer noch allerlei Lametta. Zu Beginn der siebziger Jahre entfielen diese Silberfäden auf den Zweigen, weil meine Eltern das plötzlich als ziemlich kitschig empfanden. Aber der Beginn des Festes bei ihnen blieb immer gleich: Die geschlossene Tür zum Wohnzimmer wurde nach einer ganzen Weile für die Wartenden geöffnet, eine prächtige Flügeltür, die, weil ihre vielen Felder mit blindem Glas gefüllt waren, auch von außen erkennen ließ, dass da zunächst Geschenke auf den Wohnzimmertisch geräumt und dann die Lichter am Baum entzündet wurden. Dann traten mein Bruder und ich ein.

Der Raum des Wohnzimmers war völlig verändert, weil die Kerzen strahlten und alles in einem ganz besonderen Licht erstrahlte. Natürlich durften wir nicht einfach so zur Tür hereintreten; erst nachdem ich ein Gedicht gesagt hatte oder, jedenfalls seitdem ich Blockflöte spielte, mit dem Instrument ein Weihnachtslied gespielt hatte:

„Fröhlich soll mein Herze springen“ beispielsweise. Das Blockflötenstück wurde natürlich kurz vorher noch einmal geübt, denn zwischen dem betont bescheidenen Mittagessen und jenem Moment, in dem ich vor der geschlossenen Tür stand, war ich allein, jedenfalls solange ich noch keinen Bruder hatte, also bis zum Ende der sechziger Jahre. Dieses Mittagessen bestand in jedem Jahr aus exakt demselben Gericht, Linsensuppe mit Würstchen. Mir schmeckte das. Dann verschwanden die Eltern rasch, um das Wohnzimmer zu dekorieren, aber der Vater kochte noch für die Mutter und sich einen Tee, so als wäre ein ganz normaler Nachmittag.

Normal war aber der Nachmittag schon deswegen nicht, weil nach dem Tee-Trinken in die Kirche aufgebrochen wurde. Weil die Bescherung immer am frühen Abend sein sollte, kam für diesen voraufgehenden Kirchgang nur die erste Christvesper, die keine Kinderchristvesper war, in Frage – je älter ich wurde, desto deutlicher wurde mir, dass sie zwar keine Kinderchristvesper mehr war, aber eben auch noch keine richtige Erwachsenenchristvesper.

Das führte dann regelmäßig dazu, dass der Familienrat beim kritischen Nachgespräch über den Gottesdienst auf der Rückfahrt im Auto übereinkam, nächstes Jahr endlich einmal in einen richtigen Erwachsenengottesdienst und also deutlich später zu gehen – wo predigte eigentlich der Bischof Kurt Scharf? Allerdings hatte der Konsens vom Heiligen Abend im nächsten Jahr keinerlei Folgen – und bis auf den heutigen Tag hat sich nichts geändert: Noch immer wird, als sei nie etwas anderes verabredet worden, die gewöhnliche Nachmittagsvesper zur vertrauten Stunde in der nahe gelegenen Dorfkirche aufgesucht. Nur die Dorfkirche im Südwesten Berlins hat sich geändert, als meine Eltern im Alter in eine kleinere Wohnung zogen. Eine Abweichung muss allerdings notiert werden: Am Ende meiner Gymnasialzeit ging ich bisweilen noch allein oder mit meinem Bruder in einen Mitternachtsgottesdienst, wenn ich das zuvor Erlebte zu stark auf Kinder ausgerichtet fand. Da wir natürlich in den kleinen Dorfkirchen in einer Reihe nebeneinander wollten und noch immer wollen, musste und muss stets recht früh aufgebrochen werden. Dann saßen und sitzen wir in Reihe – und werden stille. Enten im Anflug. Das Liedblatt wird gemustert. Und den Erinnerungen und Gefühlen nachgehangen. Mein Vater war immer sehr gerührt, wenn dann der Gottesdienst begann, und konnte gar nicht mitsingen. Ich erinnere mich noch gut, wie er eines Jahres einmal von der recht energischen Kantorin angesprochen wurde: „Sie haben ja gar nicht mitgesungen!“ Da war sie von der Orgelempore herabgekommen, hatte von vorn, vom Altar aus, die große Gemeinde angeleitet und wahrgenommen, wer nicht sang.

Wie im elterlichen Wohnzimmer gab und gibt es auch im Gottesdienst jener beiden Dorfkirchen jedes Jahr nahezu dasselbe Programm, jedes Jahr nahezu dieselben Lieder. Das machte aber nichts. Und macht nichts. Bis in die neunziger Jahre entsprachen die Lieder meist noch der Frömmigkeit des Evangelischen Kirchengesangbuches und nicht der des neuen Evangelischen Gesangbuches, also wurde „O du fröhliche“ gesungen, aber selbstverständlich nicht „Stille Nacht“. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, wenn es jetzt häufiger gesungen wird.

Warum war mein Vater so gerührt, dass er trotz der energischen Mahnung der Kantorin auch im folgenden Jahr wieder nicht mitsang? Sein Vater, mein Opa, war ein evangelischer Diakon und arbeitete in späteren Lebensjahren an der Leipziger Thomaskirche. Das Klima im Haushalt, in dem mein Vater aufwuchs, kann man durchaus als erwecklich bezeichnen. Irgendwann in den fünfziger oder sechziger Jahren löste er sich von dieser erwecklichen Frömmigkeit seiner Eltern. Seitdem hielt er sich auf der rationalen Ebene für distanter von Kirche und Christentum, als er es auf der emotionalen war – und eben das wurde jedes Jahr zu Weihnachten deutlich, wenn die Lieder ihn zu Tränen rührten. Solche Bewegung blieb nicht auf die Tränen im Gottesdienst beschränkt.

An einem der Weihnachtsabende im Umfeld meines Abiturs begann mein Vater plötzlich eine schreckliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Während er sonst, wie wohl die meisten Männer seiner Generation, nur einige wenige, eher humorige Geschichten erzählt hat, schilderte er unversehens an diesem Heiligen Abend schreckliche Kriegserfahrungen: Unter Tränen erzählte er uns, wie er auf dem Rückzug irgendwo im Baltikum ein Minenfeld, das vorher nicht geräumt werden konnte, mit einem Marienmedaillon an der Hand durchquerte und hoffte, dass ihm, dem Sohn aus evangelischen Hause, dieses Faustpfand helfen möchte. Wir anderen saßen stumm und nicht weniger bewegt dabei. Auch wenn diese Szene unvergesslich ist und besonders war – es gab immer wieder Weihnachten mit so tiefen Gesprächen wie sonst übers ganze Jahr nicht.

Dazu trug sicher auch die Atmosphäre in dem Zimmer bei, in dem der Baum stand und die Bescherung stattfand: Nach dem Absolvieren der bereits schon erwähnten Torliturgie an der gläsernen Flügeltür setzten wir uns alle um den Wohnzimmertisch und schauten erst einmal den Baum an, ziemlich lange Zeit und schweigend – ganz untypisch für eine Familie, in der nahezu immer und überall geredet wurde. Heute werden in strenger Reihenfolge, die allerdings jedes Jahr neu und spontan festgelegt wird, die Geschenke ausgepackt. Wenn einer oder eine auspacken, schauen alle anderen zu, sind still und gespannt. Ist dann klar, worum es sich handelt, weil das Einwickelpapier entfernt ist, wird nnatürlich von allen kommentiert, was da verschenkt wurde.

Früher war das alles, zum großen Kummer meiner Mutter, längst nicht so geordnet: Alle rissen hektisch die Verpackungen auf, niemand achtete auf die anderen und das Papier flog achtlos zerfetzt auf den Boden. Nach meinem Abitur besserte sich Vieles: Inzwischen öffnen wir die Verpackungen ganz sorgfältig, übrigens auch hintereinander, schneiden die Klebstreifen mit der kleinen Nagelschere aus dem grünen Etui auf, falten die schönen Geschenkpapiere und heben sie übers Jahr auf, um sie gegebenenfalls im nächsten Jahr wiederzuverwenden. Bis in die letzte Minute vor der Öffnung der Flügeltür wird nämlich noch etwas eingepackt, meist in der Küche, nach dem erwähnten betont bescheidenen Mittagessen und dem Besuch in der Christvesper in einer Dorfkirche im Berliner Südwesten.

Es gab und gibt im elterlichen Hause keinen Weihnachtsmann, sondern das Christkind. Glücklicherweise ist nie so getan worden, als ob das Christkind die Geschenke bringt. Ich erinnere mich, wie merkwürdig ich die Erzählung eines Schulfreundes nach Weihnachten empfand, der berichtete, es sei zu ihnen nach Haus ein Weihnachtsmann mit einem großen Sack gekommen und habe an der Tür nach den Kindern gefragt. Nach der Bescherung wurde lange Jahre im Fernsehen (jedenfalls seit es das im Fernsehen gab und vorher eben von der Schallplatte) die erste Kantate des Bach’schen Weihnachtsoratoriums in einer Aufnahme der Thomaner gehört; das war schon deswegen selbstverständlich, weil die Eltern aus Leipzig stammen und der Vater in jungen Jahren gelegentlich bei den Aufführungen in der Thomaskirche selbst mitgespielt hatte.

„Jauchzet, frohlocket“: Den Eingangschor fand das Kind mitreißend, die lange erste Arie „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben“ wollte dagegen nie enden. Natürlich bestand und besteht Weihnachten nicht nur aus plötzlicher Ruhe nach aller Hektik, hellem Strahlen, das alle Dunkelheit vertreibt – von einem großen Drama kann ich erzählen, das sich zu Kindertagen nahezu jedes Jahr wiederholte. Eine Zeit lang war mein sehnlichster Wunsch, zu Weihnachten etwas für die Modelleisenbahn geschenkt zu bekommen. Lokomotiven und neue Wagen waren unproblematisch, die konnte man auf die Metallgleise setzen und gleich fahren lassen.

Schwieriger war es mit Häusern für die Platte, auf der die Gleise befestigt waren. Da um den Bahnhof eine Stadt entstehen sollte, wurden viele Häuser gebraucht und die gab es nur als Modellbausätze – sie mussten also aus Teilen zusammengebaut werden. Was auch immer mich damals an den Heiligen Abenden bewegte, ich wollte, so wie ich das rollende Material auf die Gleise setzte, gern auch die Häuser baldigst auf der mit grünem Rasenimitat versehenen Spanholzplatte sehen. Also verzog ich mich nach dem Abschluss der Bescherung und dem Anhören der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums, als die Eltern begannen, in den Büchern zu lesen, die sie sich geschenkt hatten, in die Küche und begann mit dem Aufbau der Häuser. Anfangs waren meine Eltern so unklug (oder so beschäftigt), mich von diesem Vorhaben nicht abzubringen. Denn regelmäßig gelangen mir die Gebäude nicht so, wie sie auf der Packung außen aussahen.

Dann musste die Mutter eiligst eingreifen und beispielsweise verhindern, dass der ätzende Spezialleim, von mir unprofessionell auf ganze Häuserwände statt nur auf ihre Ecken verteilt, die ganzen Häuserwände im Nu zerstörte. Der bis heute unvergessene Höhepunkt dieses Dramas, das für einige Jahre vor dem Abitur die Familie in Atem hielt, war eine zierliche holländische Bockwindmühle. Ich erinnere mich noch sehr genau, dass die Einzelteile der Flügel aus ganz winzig kleinen Plastikstückchen zusammengesetzt werden mussten. Offenbar war der Bausatz für geübte und erwachsene Modellbauer bestimmt; mir gelang es an jenem Heiligen Abend jedenfalls überhaupt nicht, mit meinen verleimten Fingern die kleinen Teile irgendwie zusammenzusetzen. Der Weihnachtsabend endete mit recht großem Kummer und am zweiten Feiertag baute meine recht fingerfertige Mutter die zierliche holländische Bockwindmühle an meiner Stelle zusammen.

Ich habe nicht nur in diesem Fall ungeheuer geduldige Eltern gehabt. Sie haben mir auch immer das geschenkt, was ich mir gewünscht hatte, so absurd es auch gewesen sein mag und so absurd sie es wahrscheinlich bisweilen fanden. Kurz vor dem Abitur wünschte ich mir aus einem mehrbändigen Werk  unter dem Titel „Die Kunst im Heiligen Römischen Reich“, das nach unterschiedlichen Typen von Territorien dieses Reichs geordnet war, den dritten Band unter dem Titel „Reichsstädte, Grafschaften, Reichsklöster“. Obwohl der durchgehend illustrierte Band nicht billig war, sagten die Eltern nicht: „Wozu braucht der Junge denn diesen Band?“, sondern haben ihn mir ganz freundlich und kommentarlos geschenkt.

Bald verlor ich das Interesse an der „Kunst im Heiligen Römischen Reich“, wandte mich im Studium der Theologie zu und verschenkte den Band irgendwann meinem Bruder, der als Kunsthistoriker arbeitet und mich längere Zeit im Vorfeld des Weihnachtsfestes fragte, ob ich wirklich den dritten Band eines sechsbändigen, stark kunsthistorisch orientierten Werkes bräuchte. Während mein Vater das Element von Rührung und auch ein bisschen das der Vereinzelung in das gemeinsame Weihnachtsfest meiner Eltern eingebracht hat – ich bin eben in meiner Rührung vereinzelt –, hat meine Mutter dagegen die gemeinschaftlichen Elemente gestärkt: „Wir machen miteinander was und wir nehmen aufeinander Rücksicht.“ Sie hat beispielsweise die Idee aufgebracht, an den Weihnachtsfeiertagen schöne alte Gesellschaftspiele zu spielen. Die Familie meiner Mutter stammt ursprünglich aus Nördlingen. Und von daher haben wir ein wunderbares Spiel aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, das heißt „Drei Mal um Nördlingen“: Ein Würfelspiel, bei dem man auf Feldern um die Nördlinger Stadtmauer herum vorrückt und einem dabei so wunderbare Dinge passieren wie „Du bist benebelt vom Duft der Gasanstalt und setzt auf der Bank eine Runde aus“.

Warum ist Weihnachten das beliebteste Fest? Christoph Markschies in seiner Videokolumne


Neben dem Baum hatten meine Eltern einen Wassereimer stehen – freilich nicht immer. Es muss schon im Januar gewesen sein, irgendwann in den siebziger Jahren. Der Baum war so knochentrocken geworden, dass er sich entzündete. Ich weiß davon allerdings nicht mehr sehr viel, denn ich bin schreiend auf das Treppenhaus gerannt und habe gerufen: „Hilfe, Hilfe, die Wohnung brennt.“ Meine Eltern waren glücklicherweise so vernünftig, den Baum zu löschen und sich erst dann um den schreienden Jungen auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung zu kümmern. Ich hatte nämlich die Wohnung eiligst verlassen, weil ich dachte, jetzt verbrenne alles in einem großen Brand. Glücklicherweise gelang es meinen Eltern offenbar schnell, den Baum zu löschen – und abgesehen von Löschwasserflecken in einer Literaturgeschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts und einem sehr hässlichen dunklen Fleck an der Decke blieben glücklicherweise keine Schäden – außer der Tatsache, dass über lange Zeit Elektrokerzen verwendet wurden und wir das warme Licht der Wachskerzen entbehren mussten. Erst meine spätere Frau hat, als sie noch Freundin war, für die Wiedereinführung von feinen Wachskerzen und eine etwas andere, sichere Art ihrer Befestigung am Baum gesorgt. Der hässliche Fleck an der Decke war eigentlich auch gar keine Folge des Brandes, sondern das Ergebnis eines nicht restlos glücklichen Versuches meiner Mutter, den Ruß von der Decke herunterzubringen. Das war ihr irgendwie nicht gelungen. Man sollte nämlich unter keinen Umständen Ruß mit Wasser abwaschen wollen.

Das geschilderte Weihnachtsprogramm meiner Eltern und meiner Kindertage hat sich, obwohl mein Vater inzwischen gestorben ist und keines ihrer beiden Kinder mehr bei meiner Mutter lebt, weitestgehend bis auf den heutigen Tag erhalten. Das Weihnachten, das ich seit der Hochzeit mit meiner Frau gefeiert habe, ergänzt das Weihnachtsfest bei meiner Mutter, aber ersetzt es nicht. Das bedeutet, dass wir mittags zu meiner Mutter fahren und meine Frau den Baum „anputzt“, also aufstellt und schmückt. Mit meiner Frau sind allerdings in den späten achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein paar eher sudetendeutsche Weihnachtssitten dazugekommen, zum Beispiel gibt es nur zwölf Kerzen. Dann folgen die bewährten Teile des klassischen Rituals: Gang in die Kirche, Kerzen anzünden, Bescherung (obwohl nun die Flügeltür fehlt und daher auch die Tor-Liturgie entfallen ist), Weihnachtsoratorium hören und Heringssalat essen.

Erst danach geht das Ehepaar Markschies zu sich nach Hause und wiederholt, leicht verändert, Teile des voraufgehenden Heiligen Abends. Wieder werden Kerzen angezündet, diesmal die des eigenen Baums, wieder wird lange auf den Baum geschaut, wieder werden die Kerzen gelöscht und wieder fängt einer mit dem Auspacken der Geschenke an. Eigentlich könnte das immer so fortgesetzt werden, noch viele Jahre lang. Doch ich muss ehrlich und leicht besorgt zugeben, dass mindestens das Ritual in der elterlichen Wohnung bedroht ist. Meine Mutter findet, sie sei zu alt für einen eigenen Baum. Seit etwa zwei Jahren muss sie dazu überredet werden, aber noch lässt sie sich überreden. Dabei macht es solchen Spaß, einen Baum auszusuchen: Ich genieße es jedes Mal, am Samstag vor dem vierten Advent den Baum für das Fest kaufen zu gehen. Wir erledigen das in der Regel für den Baum in unserer eigenen Wohnung auf einem großen Platz in der Nachbarschaft, sodass wir den Baum in unsere unweit gelegene Wohnung tragen können. Das macht großen Spaß, oft schneit es schon oder es ist bitterkalt. Wir tragen den Baum so etwa zehn, vielleicht auch fünfzehn Minuten, müssen uns konzentrieren, reden nicht viel und denken daran, wie dieser Baum, der noch ein paar Tage auf dem Balkon stehen wird, bald im Lichtglanz strahlen wird.

Da meine Eltern beide über Sachsen nach Berlin gekommen sind, spielten schon in ihren Elternhäusern erzgebirgische Weihnachts- und Adventsbräuche eine große Rolle, das setzte sich in meinem Elternhaus fort und so ist es bei mir bis heute: Ich esse ab dem ersten Advent Stollen und es gibt ab da eine inzwischen recht stark angewachsene Engelskapelle auf dem Klavier. Meine Mutter schenkt jedes Jahr zum ersten Advent einen musizierenden Engel, unendlich kitschig mit grünen, weißgepunkteten Flügeln. Kitschig, aber vertraut. Vor einiger Zeit fiel mir freilich auf, dass das Orchester wegen viel zu vieler Blechbläser eher nach einer schlechten Dorfkapelle auszusehen drohte als nach einem Ensemble für himmlische Musik. Entsprechend habe ich nicht nur heimlich ein paar Streicher nachgekauft, sondern mir auch von der Mutter einige gewünscht. Es gibt aber noch weitere kleinere Orchester-Dramen, die wir aufgrund ihrer Komplexität bislang noch nicht gelöst haben: Auf der Orgel wird „O du fröhliche“ gespielt, der Dirigent dirigiert „Stille Nacht“. So steht es jedenfalls in den Noten. Aber natürlich hofft man insbesondere als Theologe, dass Engel solche lächerlichen irdischen Differenzen ausgleichen können und es trotzdem eine Harmonie gibt, wenn sie spielen. Wir hatten übrigens auch mal eine erzgebirgische Spinne, ein hölzerner Kronleuchter, unter dem die beiden erzgebirgischen Figuren von Engel und Bergmann besonders fein aussahen. Leider ist die Spinne vor Jahren verrottet, als uns in Heidelberg das im Keller Eingelagerte verschimmelt ist. Die Spinne wurde aber im Unterschied zu anderen verschimmelten Dingen nicht ersetzt, weil meine Frau fand, mit dieser Spinne sei die Grenze zum Kitsch eindeutig überschritten. Die übrigen erzgebirgischen Stücke halten wir glücklicherweise weit entfernt von allem Kitsch, auch wenn wir leicht irritiert wahrnehmen, dass selbst beste Freunde und kluge Zeitgenossen hier überraschend abweichende Ansichten vertreten. Wir sind uns dagegen darüber einig, dass Schwibbögen natürlich gestattet sind, dass die Engel gestattet sind, wunderbare Räuchermänner, natürlich auch Nussknacker, aber eben nun keine Spinne mehr.

Natürlich haben wir daher, wie es sich für eine erzgebirgische Advents- und Weihnachtszeit gehört, auch eine Weihnachtspyramide, die zum zweiten Advent aufgebaut wird. Ich habe sie als Student selber gebaut, sie ist daher hochkomplex, sehr ästhetisch und natürlich überhaupt nicht kitschig. Der Baumschmuck in der Wohnung meiner Eltern und bei mir zu Hause hat sich inzwischen sehr angenähert. Nach dem erwähnten Verschwinden des Lamettas zu Beginn der siebziger Jahre waren es für Jahre und Jahre zunächst nur große Christbaumkugeln, in lediglich zwei Farben, rot und silbern. Aber dann fing meine Mutter urplötzlich an, den Baum mit Lebkuchen, Pomanderbällen, die sie selber immer dadurch herstellte, dass sie Orangen mit Gewürznelken verzierte, mit polnischen Vögeln, in die man reinblasen kann, und mit großen Strohsternen zu behängen. Daher gibt es inzwischen reichliche Auswahlmöglichkeiten für das Baumanputzen; in den Kisten liegt so viel Baumschmuck, dass davon ziemlich ausgewählt werden muss. In den vergangenen Jahren saß meine Mutter vor ihrem Baum in ihrer Wohnung auf einem Stuhl, meine Frau wählte aus den Kisten aus, dekorierte und meine Mutter sagte: „Mach doch bitte da oben noch das und jenes hin.“ Ein schönes Bild.

Natürlich möchte ich zu Advent und Weihnachten auch nicht in meiner Freude vereinzeln und für mich allein bleiben oder lediglich en famille. Daher laden wir im Advent meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Universität und aus der Akademie nach Hause ein, in der Regel möglichst nahe am faktischen Weihnachtstermin. Und im Rahmen solcher Adventsfeiern essen wir nicht nur oder unterhalten uns – wir singen mehrstimmig. Natürlich singt nicht der ganze Lehrstuhl mit. Es gibt immer zwei, drei, die auf dem Sofa sitzen und ein bisschen verwundert gucken. Es hat immer auch mal ein, zwei gegeben, die auf den Balkon rauchen gegangen sind und nicht einmal anhören konnten, was gesungen wurde (vom Mitsingen kaum zu reden). Wir hatten auch hier einmal einen krisenhaften Moment, weil eine meiner Mitarbeiterinnen Tochter eines verstorbenen zeitgenössischen Komponisten ist und Noten ihres Vaters mitgebracht hatte, die niemand so mir nichts dir nichts vom Blatt singen konnte. Inzwischen ist es so, dass Einzelne auch relativ versiert Posaune spielen, es eine Vorbereitungsgruppe gibt, die das Programm schon vorbereitet und auch vorher übt. Das Experiment mit der zeitgenössischen Musik haben wir trotzdem nicht fortgesetzt; im Wesentlichen werden auf der erwähnten Feier Adventslieder von denen, die das mögen, Weihnachtslieder zum einen in nachreformatorischen, zum anderen in Sätzen Johann Sebastian Bachs gesungen.

Eine Geschichte muss ich zum Schluss erzählen, weil sie deutlich macht, wie sehr kulturelle, soziale und politische Hintergründe das eigene Weihnachtsfest, die Praxis des Umgangs mit dem Fest bestimmen. Als ich noch als Präsident der Berliner Humboldt-Universität amtierte, ging ich in meinem zweiten Amtsjahr bereits im Herbst zu den wunderbaren Hausmeistern des Hauptgebäudes Unter den Linden und bat sie, doch nicht immer schon zum ersten Advent im Hauptfoyer einen Weihnachtsbaum aufzustellen, sondern besser einen Adventskranz aufzuhängen. Die sehr engagierten Hüter des mindestens äußerlich barocken Gebäudes nickten und machten sich sogleich ans Werk, den leicht absurden Wunsch ihres Präsidenten zu erfüllen. Als ich dann aber einige Wochen später am Freitag vor dem ersten Advent eilig das Hauptfoyer durchquerte, um rasch in mein Büro zu gelangen, stand einer der Hausmeister da und strahlte, wie eben nur Menschen strahlen, die glauben, anderen eine Freude zu machen. Ich dagegen dachte nach einem kurzen Moment: „Dich trifft gleich der Schlag.“ Und im nächsten Moment schoss mir ein zweiter Gedanke durch den Kopf: „Sag jetzt nichts.“ Der Hausmeister aber schien wohl etwas zu ahnen und sagte, indem er erklärte, was ich gesehen und was mich zu Tode erschrocken hatte: „Diese vier Kerzen auf den Kränzen, das sieht ja immer so elend mickrig aus, wir haben einfach zwölf aufgestellt.“ Da hatten meine sehr fleißigen Hausmeister an allen vier Stellen, wo man beim traditionellen Kranz seine Kerzen aufstellen kann, jeweils drei befestigt. Ich überlegte eine kurze Weile bei mir, ob man vielleicht diesen improvisierten Zwölferkranz zu einem warf aber mangels einer wirklichen Praktikabilität diesen Vorschlag und hielt mich nur an den zweiten Gedanken „Sag jetzt nichts!“ Wenn man sich im atheistischen Osten langsam dem Brauch des Adventskranzes wieder annähert, darf man nicht gesetzlich sein, es möchte auch irgendeinen Zwölferrhythmus in der Adventszeit geben, zumal die Kerzen aus Brandschutzgründen ohnehin nicht angezündet werden durften.

Nicht am Freitag, sondern am Samstag vor dem ersten Advent gibt es schon seit vielen Jahren einen Vorbereitungsakt, der mir im Unterschied zum Adventskranz im Hauptfoyer der Universität weder Kopf- noch Bauchschmerzen macht. Ganz im Gegenteil – dieser Vorbereitungsakt treibt nun auch mir, wie einstens meinem Vater, die Tränen in die Augen, weil ich da ganz glücklich bin: Es handelt sich um den Herrnhuter Christstern, den meist am Samstag vor dem ersten Advent meine Frau in der frühen Nachmittagsdämmerung zusammensteckt. Ich habe zur Unterhaltung schöne Adventsmusik aus dem unteren Teil des CD-Regals bereitgelegt und wir hängen gemeinsam den frisch zusammengesteckten Stern in den Erker meines Arbeitszimmers. Er strahlt auf die Straße hinaus, und ich habe immer den Eindruck, dass es in einem viel tieferen Sinne in die Welt herein strahlt: der trübe November, das viel zu lange Semester – und jetzt ist plötzlich eine unwiderrufliche Zäsur gesetzt. Das ist ein ganz großer, sehr tief emotional bewegender Moment.


 

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