chrismon: Wann wurde Ihnen klar: Unsere Familie ist anders?
Bedford-Strohm: In der Schulzeit. Einmal kam mein Direktor in die Klasse. Ich sollte in der Pause zu ihm kommen, mein älterer Bruder auch. Wir Strohm-Kinder waren damals alle fünf an einem Gymnasium, und es hieß, wir beide seien im Bus frech gewesen. Der einzige Grund für die Beschwerde war, dass mein Bruder und ich in der Gemengelage im Bus bekannt waren. Nur weil wir die Pfarrerskinder waren! Da wurde mir klar, wie sehr wir im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen.
Saalfrank: Bei mir gab es keinen solchen Moment. Ich habe es aber immer als etwas Besonderes empfunden, im Pfarrhaus zu leben, einem Haus, in dem schon vor uns Pfarrer gelebt haben. Viele meiner Freunde wohnten auf kleinerem Raum und ohne Garten. Und noch etwas war mir sehr bewusst: Bei uns gab es Dinge, die machte man, und andere, die machte man nicht, auch wegen der anderen Leute. Es war klar: Wir alle gehen sonntags in die Kirche. Manche Erwartungen meiner Eltern konnte ich erfüllen. Manche nicht, dann gab es Ärger.
Was konnten Sie nicht erfüllen?
Saalfrank: Auf Konfirmandenfreizeiten habe ich mich mal, wie alle anderen auch, nachts rausgeschlichen. Mein Vater war da von mir enttäuscht und hat das sehr persönlich genommen.
Heinrich Bedford-Strohm
Katharina Saalfrank
Bedford-Strohm: Ich war auch manchmal etwas vorlaut und musste meinen Mitkonfirmanden zeigen, dass ich nicht einfach folgsamer Sohn des Pfarrers war. Ich habe ihm auch das Leben etwas schwergemacht. Einmal kam meine Mutter abends zu mir ins Zimmer und hat mir deswegen ins Gewissen geredet. Die Rolle des Pfarrkindes hat aber auch viele positive Aspekte.
Saalfrank: Absolut. Und in anderen Familien ist es im Grunde nicht anders. Alle Eltern haben ja Erwartungen und wollen, dass ihre Kinder nicht negativ auffallen.
"Entscheidend ist, ob man die Rolle als Pfarrkind reflektiert"
Sie fordern in Ihrem Buch Beziehung statt Erziehung.
Saalfrank: In der herkömmlichen Erziehung reagieren Erwachsene mit Maßnahmen. In einer guten und gleichwertigen Beziehung setzt man sich persönlich auseinander, ist offen und interessiert. Man fragt und hört einander zu: Was ist deine Haltung, wie denkst du darüber? Es reicht nicht, dass die Eltern sagen: Wir sitzen sonntags um zehn im Gottesdienst in der ersten Reihe. Sondern als Kind darf ich zurückfragen: Warum ist dir das so wichtig?
Ist das protestantische Pfarrhaus zu fordernd?
Bedford-Strohm: Entscheidend ist, ob man die Rolle als Pfarrkind reflektiert. Ich habe viel mit meinen Geschwistern darüber diskutiert. Für mich kann ich nicht sagen, dass ich unter der Rolle gelitten hätte. Man ist natürlich ständig in der Öffentlichkeit. Klingelt es an der Tür und ein Obdachloser steht da, ist man schon der Vermittler. Man holte die Mutter, meistens war sie die Ansprechpartnerin, wenn mein Vater unterwegs war. Es war ein Familienunternehmen.
Saalfrank: An solche Momente erinnere ich mich auch. Die Lutherkirche in Wiesbaden ist die nächste Kirche am Bahnhof. Bedürftige kamen zuerst bei uns vorbei. Wir hatten extra Teller, Besteck und Tassen für "Durchwanderer" – meine Mutter sagte nie "Bettler" oder "Obdachlose". Unsere Tür stand selbstverständlich offen, auch wenn dann mal ein Fotopparat fehlte, der auf dem Kinderwagen im Flur gelegen hatte.
Heute haben Pfarrerinnen und Pfarrer oft berufstätige Partner. Das Familienunternehmen ist nicht mehr selbstverständlich.
Saalfrank: Meine Mutter war auch immer voll berufstätig!
Bedford-Strohm: Ich meine aber schon, da ändert sich etwas grundlegend. In welche Richtung offen, da sind Pfarrer und Gemeinden noch auf der Suche. Ich habe hohen Respekt für die Rolle meiner Mutter im gemeinsamen Pfarrhaus – welchen Rieseneinsatz auch sie dabei für die Kirche brachte! Dem darf man aber nicht hinterhertrauern, sondern sollte Ja sagen zu dem, was sich verändert hat und weiter verändern muss. Heute haben oft beide Partner ihre berufliche Laufbahn. Sie müssen die richtige Balance finden zwischen der Notwendigkeit, sich abzugrenzen und zugänglich zu sein. Christlicher Glaube hat mit gelingenden Beziehungen zu tun. Und das weckt auch Erwartungen an die Pfarrfamilie.
Saalfrank: Auch wenn ein Pfarrer die Verantwortung für eine Gemeinde hat, ist ja nicht ausschließlich er für das Wohl aller zuständig. Eigentlich sollten wir doch alle so etwas wie Pfarrhäuser sein, also offen für die Nöte unserer Nachbarn. Dadurch, dass wir alle ständig über Mail und Telefon erreichbar sind, haben wir vielleicht das Bedürfnis, zu Hause für uns zu sein und dichtzumachen. Und es ist ja auch eine Herausforderung, auf sich selbst zu achten: Wo liegen meine Grenzen, und wo kann ich auch für andere da sein? Gerade beim Pfarrer ist da Professionalität gefragt. Er muss seine Verantwortung als Seelsorger einerseits wahrnehmen und andererseits auch seine Kräfte einteilen.
Bedford-Strohm: In den Gemeinden leben ja viele berufstätige Ehepaare, die der Pfarrfrau oder dem Pfarrmann natürlich auch die Berufstätigkeit zugestehen. Ich habe als Pfarrer mitten in der Gemeinde gelebt. Die Leute haben respektiert, dass meine Frau als Psychotherapeutin arbeitete und dass unsere drei Kinder Aufmerksamkeit brauchen. Aber es war ein tägliches Ringen, mir auch Zeit für die Familie zu nehmen.
"Für mich war mein Vater besonders präsent, bis zur ersten Klasse"
Haben Sie als Pfarrerskinder darunter gelitten, dass Sie die Aufmerksamkeit Ihres Vaters mit anderen teilen mussten?
Saalfrank: Gelitten nicht. Das Familienleben findet ja nicht nur statt, wenn man sich gegenübersitzt und redet, sondern auch wenn man zusammen isst oder Feste feiert. Meine Schwester und ich hatten als die Ältesten von fünfen das Glück, dass mein Vater uns viel Zeit einräumen konnte, im Alltag beim Schlafengehen oder wenn ich krank war. Für mich war er besonders präsent, bis zur ersten Klasse. Dann zogen wir nach Wiesbaden, die Gemeinde wurde größer, wir waren auch mittlerweile drei Kinder mehr. Aber die Beziehung blieb intensiv. Ich bin mit meinem Vater auf Kirchenfreizeiten gefahren, wir haben im Chor gesungen, Kindergottesdienste vorbereitet und im Posaunenchor gespielt. Auch wenn wir uns gestritten haben, gab es unheimlich schöne Begegnungen, wo ein dichtes Band entstanden ist.
Bedford-Strohm: Meine Mutter und mein Vater waren immer zum Mittagessen da, wenn wir von der Schule kamen. Da liefen viele Diskussionen über Politik und Kirche. Von dieser Diskurskultur habe ich sehr profitiert. Gleichzeitig hat sich mein Vater auch für andere eingesetzt, unabhängig davon, ob sie in den Gottesdienst kamen oder nicht: dass wir Jugendlichen uns hinter dem Gemeindezentrum treffen konnten, obwohl die Nachbarn sich beschwerten, da werde geraucht. Wir konnten ohne Glaubenskontrolle ins Gemeindezentrum gehen. Das erzählen mir heute noch die Leute aus Coburg. Für das Engagement meiner Eltern habe ich höchsten Respekt. Sicher auch darum habe ich diesen Beruf ergriffen – ich hatte es erst gar nicht vor.
Ist Ihr politisches Bewusstsein im Pfarrhaus gewachsen?
Bedford-Strohm: Ich habe mich schon als Jugendlicher politisch engagiert. Wer fromm ist, wer Gott und seinen Nächsten lieben will, der kann die Politik nicht draußen lassen! Wenn jemand Not leidet, muss ich fragen, wie diese Not überwunden werden kann.
Saalfrank: Bei uns zu Hause ging es eher um kommunalpolitische Fragen. Als ich meinen Mann kennenlernte, fand er es merkwürdig, dass ich nicht parteipolitisch positioniert war. Da habe ich mich erstmals mit großen politischen Fragen auseinandergesetzt und kam so zu den Sozialdemokraten.
Bedford-Strohm: Mein politisches Schlüsselerlebnis war das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt. Mein Vater hat sich immer dafür eingesetzt, Feindbilder zu überwinden. In der Ostdenkschrift von 1965 hatte ja die Evangelische Kirche zur Versöhnung mit Polen aufgerufen und zum einseitigen Verzicht auf deutsche Rechtsansprüche. Die Grundverträge mit der DDR waren in unserer Familie wichtig, die Entspannungspolitik Willy Brandts, der Kniefall in Warschau – ein Symbol, das für mich viel mit christlichen Überzeugungen zu tun hat.
Herr Bedford-Strohm: Sie spielen Fußball, Handball, Geige, haben ein altsprachliches Gymnasium besucht und waren Schülersprecher – all das, weil Sie aus einem Pfarrhaus stammen?
Bedford-Strohm: Fußball und Handball bestimmt nicht deshalb. Sport habe ich trotzdem gemacht, ich bin ja kein Knecht meiner Sozialisation. Wir sind sogar mal Kreismeister gewesen. Meine Eltern standen allerdings kein einziges Mal am Spielfeldrand. Bei uns waren Musikinstrumente dran, bei mir Geige, bei meiner Schwester Querflöte, bei meinem Bruder Klavier. Für uns fünf Kinder haben meine Eltern viel Geld ausgegeben. Bildung war dabei zentral. Ein Pfarrer muss im Theologiestudium Latein, Hebräisch und Altgriechisch können und bringt allein deshalb einen entsprechenden Gesprächshintergrund mit.
"Anspruch häufig vor dem Zuspruch"
Frau Saalfrank, Sie mussten die Schule vorm Abitur abbrechen.
Saalfrank: Meine Mutter unterrichtete an meiner Schule. Als ich 14 war, machten sich meine Eltern Sorgen um meine Leistungen. Und so kam die Ansage: Wenn die nächste Arbeit nicht besser wird, musst du die Schule verlassen. Eine Katastrophe, ich wollte das nicht, aber ich konnte auch nicht – schon gar nicht unter diesem Druck. An der Realschule war ich völlig demotiviert, den Abschluss habe ich nur mit Ach und Krach bestanden. Ich hatte das Gefühl, den Ansprüchen bei uns zu Hause nicht zu genügen. Ich habe eine Lehre zur Rechtsanwalts- und Notargehilfin gemacht und war unglücklich. Meine Freunde hatten nach der Schule viel freie Zeit. Und wenn ich abends aus dem Büro kam, war der Nachmittag rum. Ich fühlte mich unverstanden und fremdbestimmt. Am Tag nach der Prüfung habe ich mich gleich auf dem Abendgymnasium angemeldet und das Abitur nachgeholt.
Bedford-Strohm: Eine Schattenseite des alten protestantischen Pfarrhauses ist, dass der Anspruch häufig vor dem Zuspruch kam. Daran können Menschen zerbrechen. Das widerspricht der Rechtfertigungslehre, um die es im evangelischen Glauben geht: dass wir uns gerade nicht durch Leistung definieren.
Saalfrank: Das Pfarrhaus ist aber auch ein Elternhaus wie andere. Alle Eltern haben Erwartungen an ihre Kinder. So sind schon unsere Eltern erzogen worden und deren Eltern.
Beim Pfarrer, bei der Pfarrerin lässt sich nicht immer unterscheiden, wann er oder sie in der Rolle ist, wann Privatperson.
Bedford-Strohm: Das Ziel muss sein, dass man auch in der öffent-lichen Rolle authentisch ist, auch wenn man da nicht genauso redet wie mit seiner Frau. Diese Differenz ist hoffentlich da.
Saalfrank: Die Frage ist: Welche Rolle glaubt man, ausfüllen zu müssen, welche füllt man tatsächlich aus? Je geringer die Diskrepanz, desto besser.
Bedford-Strohm: Und welche Rolle füllt man aus eigenem Antrieb aus! Ein Riesenproblem, wenn ein Pfarrer meint, so oder so wirken zu müssen, und nicht zeigt, wie er wirklich ist!
Trotzdem möchte man vielleicht auch nicht alles zeigen.
Bedford-Strohm: Ja. Das Auto für den Urlaub in Schweden haben wir, fünf Kinder und zwei Erwachsene, immer nachts gepackt. Die Nachbarn sollten nicht sehen, welche privaten Sachen wir da hinaustragen. Wir sind immer nach Schweden gefahren, vier Wochen in den Wald, zehn Kilometer vom nächsten Ort entfernt. Da wollte niemand etwas von uns.
Sie halten Vorträge über Beziehung, Frau Saalfrank – wie Ihr predigender Vater?
Saalfrank: Nicht wirklich. Auch wenn wir ähnliche Themen haben. Ich halte nicht so gern Vorträge, weil ich mich lieber im Gespräch mit Menschen austausche. Mein Vater ist sehr persönlich in seinen Predigten und erzählt ehrlich von sich, seinen Ängsten und Überlegungen. Als Zuhörer fragt man sich : Wie ist es eigentlich bei mir? Da hat er von der Kanzel aus Beziehung gestiftet. Das macht für mich eine gute Predigt aus.
Bedford-Strohm: Ja, Authentizität ist absolut wichtig. Sie muss natürlich an einen Inhalt gebunden sein, sonst kann sie auch aus Banalem bestehen. Wenn das Evangelium in der Predigtvorbereitung etwas mit dem Prediger macht und die Menschen spüren, dass hinter seinen Worten eine persönliche Realität steckt, dann kommt eine gute Predigt dabei heraus.
Konnten Sie sich als Pfarrkind kulturell ausprobieren – oder war das für Sie nur Leistungsschau?
Bedford-Strohm: Zum künstlerischen Ausdruck gehört immer auch Performance. Aber in der Tat, ich konnte mich ausprobieren. Die Kirche hatte ein Schlagzeug, das sollte im Gottesdienst eingesetzt werden. Also habe ich – neben der Geige – auch Schlagzeug gelernt und die Organistin beim Bach-Orgelvorspiel begleitet. Ich bin nicht sicher, inwieweit die Gottesdienstgemeinde begeistert war.
Saalfrank: Ich habe über die Musik im Chor vor allem Verbundenheit mit anderen gespürt. Dieses Gefühl der Verbundenheit trägt mich bis heute durchs Leben.
"Ein Ritual gibt Sicherheit, kann aber auch aufgezwungen wirken"
Die Sie als etwas Bleibendes aus dem Pfarrhaus mitnehmen?
Saalfrank: Auch. Das Pfarrhaus ist ja traditionell von Normen und Werten bestimmt. Werte verändern sich. Heute dürfen wir viel mehr unsere eigenen Werte schaffen, auch im Pfarrhaus.
Bedford-Strohm: Der Soziologe Ulrich Beck sagt sogar: Wir erfinden unsere Normen jeden Tag neu. Das finde ich überzogen. Ich würde eher sagen: Vieles ist vorgegeben, aber zu allem müssen wir erst mal Ja sagen. Vielleicht ist das Bleibende, worauf man sich im Pfarrhaus verlassen kann, die Nächstenliebe, dass man die Armen nicht kalt abweist.
Saalfrank: Ich meine aber auch die Rituale: Bei meinen Eltern wird vorm Essen gebetet. Mein Mann und ich haben das mit unseren Kindern gemacht, als sie klein waren. Heute hat es sich verflüchtigt. So ein Ritual gibt Sicherheit, kann aber auch aufgezwungen wirken.
Bedford-Strohm: Ich war gerade wieder in Afrika, da ist völlig klar, dass du am Anfang betest. Früher habe ich mit allen Kindern abends gebetet. Das war ihnen wichtig, auch die Abendlieder. Als sie größer wurden, hatte ich das Gefühl: Das ist jetzt nicht mehr stimmig. Aber Gebete geben dem Tag Struktur. Das Beten immer wieder neu zu entdecken und die jeweils richtigen und angemessenen Formen dafür zu finden, ist deswegen etwas sehr Schönes. Aber damit ist man nie fertig. Auch ich nicht.
"Entscheidend ist, ob man die
"Entscheidend ist, ob man die Rolle des Pfarrkindes reflektiert." Die "Rolle" ist unwesentlich, und für ein Kind eine absolute Belastung, ganz gleich , ob Pfarrkind, oder nicht. .........."Meine Mutter war auch immer voll berufstätig!" Wen interessiert das ? "Bettler und Obdachlose " klingen auch an Türen von Nichtpfarrkindern , und auch diese fühlen sich als Vermittler. Welch eine Überhöhung wird hier sichtbar ! Das gefällt mir genauso wenig, wie es mich beeindruckt. Hier wird Dünkel sichtbar, geboren aus falsch reflektiertem Pathos , nicht mehr. --------------"Wir sind immer nach Schweden gefahren, vier Wochen in den Wald, zehn Kilometer vom Ort entfernt. Da wollte niemand etwas von uns. " Das klingt in meinen Ohren wie Paranoia, verfehlte Berufswahl, und Null BERUFUNG. Ich bedauere, dies so deutlich sagen zu müssen. Wo bleibt nun das reflektierende Element? Wo ein Mitgefühl? Kindheitserinnerungen beleben das Kaffeekränzchen und haben wenig mit reflektierender Betrachtung zu tun. Das ist bedauerlich. Sollte nicht der Interviewer vielleicht geschicktere Fragen formulieren ?
Ja, man kann diese armen gebeutelten Pfarrkinder nur bedauern. Auch wenn sie heute doch recht erfolgreich zu sein scheinen, war ihre Kindheit wohl ein schweres Los! Aber unter uns gesagt: man sollte die Leser nicht allzu sehr mit solchen allzu persönlichen Geschichten langweilen. Nicht jede Biografie ist wirklich interessant.
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