An der gläsernen Schiebetür zum Speisesaal drücken sich zwei junge Frauen die Nase platt. Sie tragen abgeschnittene Jeans und große Rucksäcke. Schließlich öffnet eine die Tür und fragt laut auf Holländisch: "Ist das hier der niederländische Kibbuz?"
Frühsommer in Nes Ammim, Nordwestgaliläa, Israel. Drückende Abendhitze. Durch die Scheiben des Speisesaals sieht man hinter Oleandersträuchen und Palmen die Gipfel des Libanon. "Ihr seid richtig hier", ruft ein junger Mann. Dreißig Holländer, Deutsche und Schweizer essen gerade zu Abend. Es sind Freiwillige auf Zeit, in Israel heißen sie Volontäre. Sie arbeiten ein bis drei Jahre für ein Taschengeld und kehren dann in ihre Heimat zurück.
Nes Ammim ist ein christlicher Kibbuz, ein Dorf mit kollektiver Landwirtschaft, einst von einem Niederländer gegründet. Wie kaum eine andere Einrichtung hat Nes Ammim, auf Deutsch: "Zeichen für die Völker", in den vergangenen 36 Jahren den jüdisch-christlichen Dialog vorangebracht. "Früher kamen die Volontäre in erster Linie aus Interesse am jüdisch-christlichen Dialog", erzählt Rian Binnendijk, Generalmanager von Nes Ammim. "Heute kommen viele, um ein Jahr auszusetzen oder Berufserfahrungen zu sammeln."
Pfannkuchen, koscher.
50 Freiwillige halten den Betrieb in Nes Ammim aufrecht. Etwas mehr als die Hälfte bleibt für zwei Jahre oder länger. Derzeit fehlen ausgebildete Fachkräfte, die sich für drei Jahre gegen ein Taschengeld verpflichten lassen. Aus Angst vorm Nahostkonflikt trauen sich viele nicht mehr nach Israel. Zudem hat Nes Ammim an Attraktivität eingebüßt. Früher profitierte der christliche Kibbuz von seinem Ruf als Versöhnungsprojekt. Heute suchen viele das authentische Israel lieber in anderen Kibbuzim, wo sie mit Juden zusammenleben. Früher leisteten europäische Volontäre in Nes Ammim Aufbauhilfe für den jungen Staat Israel. Heute interessiert Europäer zunehmend das Schicksal der Palästinenser.
Nes Ammim in der Krise: Unlängst schockierte Manager Binnendijk die europäischen Förderer mit der Botschaft. "Die wirtschaftliche Situation ist wirklich kritisch." Wenn sich Nes Ammim nicht grundlegend ändere, sei es binnen Jahresfrist pleite. Längst sind die umliegenden Avocadoplantagen verpachtet, weil sie sich nicht gewinnbringend bebauen lassen. Nun werde auch das letzte landwirtschaftliche Standbein, die Rosenzucht, geschlossen.
Die Rucksacktouristinnen stehen unsicher im Speisesaal. Der junge Mann weist mit einer einladenden Geste aufs Buffet. Es gibt Pfannkuchen, mit Gemüse oder mit Sirup. Alles gut niederländisch. Und koscher, nach jüdischen Speisegeboten zubereitet. Die Frauen setzen sich zu den Holländern. Sie erzählen. Drei Monate haben sie in einem jüdischen Kibbuz gearbeitet. Nun hängen sie ein paar Wochen Urlaub hinten dran. Jemand hat ihnen vom niederländischen Kibbuz erzählt. "Witzig", fanden sie. "Den müssen wir kennen lernen." Nun hoffen sie, hier umsonst übernachten zu können. Morgen wollen sie weiter. "Bleibt doch im Gästehaus", schlägt jemand vor. "Da steht alles leer. 60 Dollar das Doppelzimmer." "60 Dollar? Zu teuer!" Nach dem Essen sind die Frauen wieder weg.
Wider den christlichen Antijudaismus.
Am Anfang stand das Entsetzen über sechs Millionen ermordete Juden. Die fünfziger Jahre begannen. Deutschland, ganz Europa kehrte zur Normalität zurück. Doch Johan Pilon, den niederländischen Arzt und engagierten Christen, quälte ein Gedanke. Das europäische Judentum war einem Antisemitismus zum Opfer gefallen, dessen Wurzeln im Christentum liegen, diagnostizierte er. Einem Antisemitismus, der sich in gravierenden Fehlurteilen äußere: Die Juden seien Christusmörder. Oder: Das Alte Testament predige Rache, das Neue Testament Liebe. Pilon forderte seine Glaubensgenossen auf, antijüdische Vorurteile zu überwinden. Vor allem müssten Christen ein deutliches Zeichen der Solidarität mit dem neu gegründeten Judenstaat Israel setzen.
Pilon wollte einen christlichen Kibbuz gründen. Einen Ort, an dem sich Christen von Juden sensibilisieren lassen für die subtilen Formen des Antisemitismus in ihrem Glauben und von dem sie geläutert nach Europa heimkehren. Bald fand der Arzt Unterstützer aus der rheinischen Landeskirche, der bis heute wichtigsten Sponsorin. In den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz entstanden Fördervereine. 1962 kauften sie brachliegendes Land in Westgaliläa.
Die jüdischen Siedler in Westgaliläa waren empört: Ein christliches Dorf mit deutscher Unterstützung war das Letzte, was sie sich in ihrer Gegend wünschten. Viele waren von den Nazis verfolgt worden. Westlich von Nes Ammim liegt der Kibbuz Lochamei ha-Gettaot, gegründet von Überlebenden des Warschauer Gettos. Weiter nördlich in Shavei Zion hatten sich 1938 Juden aus dem schwäbischen Ort Rexingen angesiedelt. Etwas östlich liegt Beit ha-Emek, damals ein Dorf ungarischer Juden. Die Anwohner protestierten damals heftig gegen die Pläne für ein christliches Dorf.
Blutsverwandtschaft
Doch schon die ersten Volontäre gewannen das Vertrauen der jüdischen Nachbarn. Einstige Gegner und Protestführer wie der Oberrabbiner Aharon Keller aus Naharija wurden Freunde von Nes Ammim. Niederländische Fachleute, ebenfalls Freiwillige, bauten einen Rosenzuchtbetrieb auf und brachten landwirtschaftliches Fachwissen nach Israel. Anfangs hatten die Bewohner von Nes Ammim eingewilligt, dass keine Deutschen bei ihnen leben dürften. Sieben Jahre später konnten sie das Verbot aufheben.
Nes Ammim hatte in der israelischen Öffentlichkeit bald einen guten Ruf als Versöhnungsprojekt. Zuletzt stand die Siedlung Anfang des Jahres in den Schlagzeilen, als ein langjähriger Bewohner im Dienst der israelischen Armee ums Leben gekommen war: Jonathan Vermeulen. 1975 war er als vierjähriges Kind mit seiner Familie nach Israel gezogen. 15 Jahre blieben seine Eltern in Nes Ammim. 1990 kehrten sie nach Holland heim. Vermeulen, inzwischen volljährig, wollte nicht in den Niederlanden leben. Er war in Westgaliläa aufgewachsen, seine Heimat war Israel. Er wurde israelischer Staatsbürger und trat als Christ der israelischen Armee bei.
Am 29. Dezember 2000 geriet der niederländisch-israelische Offizier Vermeulen im Gazastreifen in einen Hinterhalt. Er sollte eine Mine am Straßenrand entschärfen. Während des Einsatzes zündeten palästinensische Widerstandskämpfer die Mine aus der Ferne. Die Armee setzte Vermeulens Leichnam in Naharija nahe Nes Ammim bei, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Vermeulens Eltern reisten aus Holland an. Nach der Beerdigung sagten sie israelischen Journalisten: "Dies ist das Heilige Land. Mit ihm haben wir uns immer in besonderer Weise verbunden gefühlt. Nun haben wir eine Blutsverwandtschaft, die niemand zerstören kann. Wir sind stolz auf Jonathan."
Das Rosenhaus.
"Paradiso" steht in großen Lettern über der Volontärshütte. Hier treffen sich abends die "Short Termer", rauchen Wasserpfeife und reden sich heiß über den aktuellen Stand des Nahostkonflikts. Short Termer sind Volontäre, die ein Jahr in Nes Ammim bleiben. Am nächsten Morgen zeugen dreckiges Geschirr, Mundstücke von Wasserpfeifen und ein Paar nasse Sandalen auf der Veranda vom abendlichen Treffen. Aus einer leeren Heineken-Flasche ragt eine langstielige gelbe Rose.
Vormittags arbeiten die Volontäre in der Verwaltung, in der Küche, im Gästehaus oder in der Rosenzucht. So auch Jeroen Taal, niederländischer Versicherungskaufmann, 26 Jahre alt, Short Termer. Heute trägt er einen gelben Schutzanzug und eine Gasmaske. Er rollt eine Pumpe mit Insektenschutzmittel an langen Reihen von gelben und roten Rosen vorüber. Hinter der Gasmaske kommen eine dünnrandige Brille und ein korrekt gezogener Mittelscheitel zum Vorschein.
Fünf Jahre war Jeroen in einem Rotterdamer Versicherungsbüro tätig. Dann erwischte ihn die Berufskrise. Er wollte mal was ganz anderes machen. Jeroen dachte an ein Jahr in einem Kibbuz in Israel. In seiner Kirchengemeinde hörte er von Nes Ammim. Was ihn überzeugte: Dort unterhält man sich nicht mit Händen und Füßen und einigen Fetzen Englisch. Man spricht auch Holländisch.
Salzwasser und Bitterkraut.
"Der jüdisch-christliche Dialog ist bei den meisten nur der zweite Grund nach Nes Ammim zu fahren. Der erste heißt aussteigen, eine Pause einlegen", sagt Jeroen. Und nach einer Weile ergänzt er: "Außerdem sind die Juden hier auch nicht am Dialog mit Christen interessiert." Als erfahrene Bürokraft war Jeroen zunächst in der Buchhaltung von Nes Ammim. Weil ihm diese Arbeit keine Abwechslung brachte, ist er nun in der Rosenzucht. "In der Verwaltung habe ich mit zwei Israelinnen zusammengearbeitet", sagt Jeroen. "Insofern gab es eine Art Dialog zwischen mir, dem Christen, und ihnen, den Jüdinnen. Aber es waren immer dieselben Leute, mit denen ich gesprochen habe. Und dann sowieso über berufliche Dinge."
Das Gemüsefeld neben dem Schlagbaum ist abgeerntet. Am Eingang von Nes Ammim ragten im März noch große gefiederte Blätter aus dem Boden. Inzwischen sind die Pflanzen samt Wurzeln gezogen. Volontäre und arabische Arbeiter aus Nachbardörfern ernteten hier mehrere Lastwagenfuhren mit Meerrettich. Es ist das Bitterkraut, das Juden am Abend des Passahfestes essen.
Das laufende Jahr ist nach dem religiösen Kalender ein Sabbatjahr, in dem jüdische Äcker laut Ritualgesetz brachliegen sollten. Juden, die streng auf die Einhaltung aller Gebote bedacht sind, kaufen ihr Gemüse bei Nicht-Juden ein. Etwa im christlichen Kibbuz Nes Ammim. "Unter unseren Kunden sind viele streng religiös", sagt Andreas Grefen, freigestellter Pfarrer der rheinischen Landeskirche, auch er Volontär.
Freitagmittag, 6. April.
Autos aus Naharija, Haifa und Tel Aviv passieren den Schlagbaum. Der Parkplatz vor dem Gästehaus füllt sich. Aus einem Fiat Punto steigen eine Frau mit langem Rock und ein älterer Herr mit Kippa, der Kopfbedeckung frommer Juden. Kleinwagen, Familienvans und ein Bus fahren vor. 200 Gäste werden für das Passahfest erwartet. "Zum fünften Mal gibt es bei uns einen orthodoxen Sederabend", sagt Grefen. Der Sederabend ist der erste Abend des Passahfestes. Viele Israelis verbringen die Feiertage in Hotels oder Gästehäusern oder eben im christlichen Kibbuz Nes Ammim. Selbst orthodoxe Juden kommen hierher. "Was früher undenkbar war, ist bei uns längst Normalität."
Samstagabend um halb sieben beginnt der Sederabend. Der Gästesaal ist brechend voll. Männer mit Kippas, Frauen mit langen Röcken drängen sich um die Tische. Kinder lärmen. Auf den Tischen stehen Schalen mit Gemüse: Sellerie, Rote Bete, Meerrettich, Radieschen. Salzwasser in Schälchen, daneben Eier in Körben. Rotwein, Softdrinks, Gläser, Besteck. Auf den Tischen türmen sich die Matzen, ungesäuerte Fladenbrote.
Rabbi Micha Peled aus Beit Horon spricht die Segensworte. Er erzählt den Kindern von der Bedeutung des Passahfestes wie Israel vor langer, langer Zeit aus der Sklaverei in die Freiheit zog. Er isst mit den anderen Gästen Bitterkräuter zum Passahmahl, tunkt Eier in Salzwasser und singt den Lobgesang.
Altenheim für Holocaustüberlebende
"Abschied vom vertrauten alten Nes Ammim und Schritte auf dem Weg zu einem neuen Nes Ammim selbstverständlich auf der Basis der ursprünglichen Idee." Behutsam schwören die Vorsitzenden der Fördervereine ihre Mitglieder auf den Wandel ein. Gastronomie statt Landwirtschaft heißt das Zauberwort. Noch ist offen, ob das Konzept aufgeht und Nes Ammim die nächsten Jahre überlebt. Außerhalb der jüdischen Feiertage kommen kaum Gäste. Finanzkräftige Reisegruppen aus Europa und Amerika bleiben wegen des Nahostkonfliktes aus. Die Einkünfte aus dem Gästehaus gehen an Werktagen gegen null.
Hinter den Volontärshütten liegt das Fußballfeld. Hier soll ein privates Altenheim entstehen. Für Holocaustüberlebende, ehemals deutsche, französische, ungarische, polnische Juden. Viele von ihnen lieben die fruchtbare nordwestgaliläische Landschaft, sie erinnert an die Welt ihrer Kindheit. Ein jüdisches Altenheim in einem christlichen Kibbuz. Holocaustüberlebende, betreut von christlichen, auch von deutschen Volontären. Läuft alles wie geplant, hat Nes Ammim mehr erreicht, als sich Gründer Johan Pilon hätte träumen lassen. Damals, Anfang der Fünfziger, als er sich seines Christentums schämen musste.