Auf dem Boden liegen tote Tauben, im Eingang türmen sich Müll und Schutt. An den Decken schimmelt es. Seit zehn Jahren steht die Kapernaum-Kirche in Hamburg-Horn leer. Der schlanke Turm überragt die Dächer des Viertels, die Kirche aus Backstein, Beton und Glas ist ein imposanter Bau. Ihr hohes Gewölbe breitet sich im Inneren sternenförmig aus. Hier wurde einmal gebetet, gesungen und getauft. Menschen heirateten hier und trauerten um ihre Toten. Doch jetzt scheint alles Leben aus diesem Ort verschwunden. Nur das Licht scheint immer noch genauso hell durch die bunten Wabenfenster wie früher.
Es ist ein Sonntag im März dieses Jahres. Während die Kapernaum-Kirche vor sich hin dämmert, läuft eine junge Muslimin knapp vier Kilometer weiter westlich durch die Stadt. Und bis vor kurzem hätte niemand geahnt, dass eine verlassene evangelische Kirche in ihrem Leben einmal eine Rolle spielen würde. Salima Kizai, 23, braune Augen, offener Blick. Zur Röhrenjeans trägt sie einen modischen Kurzmantel und ein Tuch aus feinem Stoff, das sie eng um den Kopf geschlungen hat. Sie ist auf dem Weg zur Al-Nour-Moschee in St. Georg, einem Stadtteil direkt hinter dem Hauptbahnhof. Sie geht schnell, fast lautlos auf ihren flachen Ballerinas, vorbei an Erotikshops, Spielcasinos und türkischen Gemüseläden, biegt ab in eine kleine Seitenstraße und tritt durch eine zerbeulte weiße Tür. Dann steigt sie eine Treppe hinab.
Niedrige Wände, keine Fenster, Betonpfeiler mitten im Raum. Grüne Vorhänge trennen den Männerbereich von dem der Frauen ab. Das ist die sunnitische Al-Nour-Moschee. Ein Gotteshaus in einer ehemaligen Tiefgarage. Die größte Kellermoschee der Stadt. Bis zu 600 Menschen aus über dreißig Nationen versammeln sich hier zum arabisch-deutschen Freitagsgebet. Viele müssen dann auf der Straße stehen, weil drinnen nicht genug Platz ist.
Nour ist Arabisch und bedeutet Licht. Licht Gottes, der Erkenntnis oder der Sonne. In den Keller aber fällt kein Tageslicht. Neonröhren an der Decke erhellen den kargen Raum. Dennoch ist die Moschee alles andere als ein trister Ort. Junge Frauen sitzen an diesem Märzsonntag in einem lockeren Kreis auf den bunten Teppichen beim Koranunterricht. Kleine Kinder laufen zwischen den Vorhängen hin und her. „Bitte Ruhe. Gespräche draußen führen“ steht auf Zetteln, die an den Betonpfeilern kleben. Die Frauen halten sich nicht daran. Zwischendurch lacht jemand. Eine Atmosphäre wie bei einem Kaffeeklatsch.
Niemand aus der Al-Nour-Gemeinde wollte in eine Kirche ziehen - aus Respekt
Daniel Abdin, 49, war das von Anfang an bewusst. Niemand habe in eine Kirche gewollt, sagt der Vorsitzende der Al-Nour-Gemeinde. „Allein schon aus Respekt gegenüber der anderen Religion.“ Nein wirklich, eine leerstehende Oper wäre ihm lieber gewesen. Abdin, gebürtiger Libanese, von Beruf Telekommunikationskaufmann, lebt seit 33 Jahren in Hamburg. Er selbst bezeichnet sich als „Hanseat, Sozialdemokrat, Muslim“, in dieser Reihenfolge. Ein redegewandter Mann, der Wert auf eine gepflegte Erscheinung legt. Weiße Haare, Anzug, Krawatte.
Während er erzählt, sitzt er im türkischen Imbiss ganz in der Nähe der Al-Nour-Moschee. Das bunte Leben von St. Georg werde der Gemeinde im zukünftigen Stadtteil Horn fehlen, sagt er, einem reinen Wohnviertel im roten Klinkerbaustil. Doch es überwiege die Freude. „Wir wollen weg vom Garagen-Image. Wir wollen einen würdigen Ort zum Beten.“ Die ehemalige Kirche sei so ein Ort. Und überhaupt, die Gesellschaft verlange doch von den Muslimen Transparenz. „Aber wie sollen wir transparent sein, wenn wir im dunklen Keller hocken?“
Acht Jahre lang hat Al-Nour nach anderen Räumen gesucht. Stets scheiterte der Umzug an zu hohen Immobilienpreisen, an Bauvorschriften oder fehlen-den Nutzungsgenehmigungen. Dann las er im Internet die Anzeige, dass die Kapernaum-Kirche zum Verkauf stehe. Kosten inklusive Umbau und Sanierung: 1,5 Millionen Euro. Jetzt warten sie auf die Genehmigung der Baubehörde für den Umbau. Dabei soll außen nahezu alles so bleiben wie bisher. „Außen Kirche, innen Moschee“, lautet das Motto. Ursprünglich sollte das „Islamische Zentrum Al-Nour“ in Horn am 3. Oktober eröffnet werden, „dem Tag der offenen Moscheen und dem Tag der Deutschen Einheit“, sagt Abdin. Doch der Termin ist nicht zu halten, vor 2014 wird der Umbau nicht gelingen.
Aber zunächst muss die muslimische Gemeinde das Vertrauen der Nachbarn in Horn gewinnen. Wie aber überzeugt man sie davon, dass die neuen Nutzer des Gotteshauses rechtschaffene Bürger sind? Kay Kraack ist Pastor der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Georg-Borgfelde. Seit vielen Jahren lebt und arbeitet er mit Al-Nour und anderen Religionsgemeinschaften in dem Multikulti-Stadtteil. Und aus gegenseitigen Besuchen, gemeinsamen Stadtteilfesten und Schulgottesdiensten ist längst eine Freundschaft zu einigen Imamen der islamischen Gemeinden entstanden.
„Nach dem 11. September 2001 hatte jeder Angst vor den Muslimen."
Ende März stand der schlanke Mann mit dem tief gefurchten Gesicht und der Bassstimme auf dem Podium bei einer Infoveranstaltung in einer Schule in Horn, zu der Al-Nour eingeladen hat. Er könne gut verstehen, dass die Umwandlung der Kapernaum-Kirche in eine Moschee für viele Menschen beunruhigend sei, sagte er vor einem Publikum aus alteingesessenen Hornern und Muslimen aus St. Georg. Manchmal werde er gefragt: „Kann man denen denn überhaupt trauen?“ Kraack machte eine Pause. „Gegenfrage, wem kann man denn vertrauen?“ Jede neue Beziehung, jede Liebschaft müsse geprüft werden. Aber dazu muss man miteinander reden. Und das braucht Zeit. So sei das auch in St. Georg gewesen, sagte er. Heute könne er über den Imam Scheich Samir, über Daniel Abdin und viele andere Al-Nour-Gemeindemitglieder sagen: „Wir sind verbunden in der gemeinsamen Verantwortung für den Stadtteil.“
Beim Imam von Al-Nour kann man jederzeit reinschauen, wenn er nicht gerade mit jemandem im Gespräch ist. Sein Büro geht vom Gebetsraum der Männer ab. Eine Gruft, immerhin mit Lichtschacht. Bücher und Broschüren über den Islam, auf Deutsch und Arabisch, türmen sich auf seinem Schreibtisch, hinter dem er, wie er sagt, viel Zeit verbringt. Rajab kommt aus einem Dorf im Libanon, in dem Muslime und Christen in friedlicher Nachbarschaft wohnen. Doch als er vor 13 Jahren nach Hamburg kam, erzählt er, musste er zunächst erfahren, dass dieses Zusammenleben nicht mehr selbstverständlich war. „Nach dem 11. September 2001 hatte jeder Angst vor den Muslimen. Jeder hat einen misstrauisch angeblickt.“ Und er fiel auf, mit seinem langen Bart und dem Gewand des Imams. Beim Spaziergang an der Alster habe ihm mal jemand Osama Bin Laden hinterhergerufen. Er lacht. Diese Zeit sei zum Glück vorbei.
Ein historischer Tag
An einem frühlingswarmen Sonntagnachmittag, war es so weit. Sie hatten Hunderte von Handzetteln in Horn verteilt und etliche Kuchenbleche gebacken. Sie hatten die Kirche gefegt und geschrubbt, den Müll, der überall herumlag, entsorgt, Holzbänke in zwei Reihen vor dem früheren Altar aufgebaut und sechs Heizpilze dazwischengestellt. Durch das bunte Rautenmosaik der Kirche fiel warmes Licht. Viele waren gekommen. Alte Damen in Rollstühlen aus der ehemaligen Kapernaum-Gemeinde, neugierige Nachbarn, Pfarrer der angrenzenden Gemeinden, Politiker und die örtliche Polizei.
Dann hielt der Imam in fehlerfreiem Deutsch seine Rede, er sprach von Transparenz, der Chance zum Dialog und guter Nachbarschaft. Er meinte das ganz konkret: Gern dürften die alten Leute aus dem Viertel die jungen Männer von Al-Nour um Hilfe bitten, wenn etwa mal im Haushalt etwas kaputtgehe. Die kräftigen Muslime, die in ihren besten Sonntagsanzügen neben ihm standen, nickten dem Publikum zu. Und der Vorsitzende Daniel Abdin beruhigte die Horner, die sich Sorgen darüber machen, wo all die Muslime denn im Viertel parken wollen. Die meisten kämen ja nur mittags zum Freitagsgebet. „Wenn die Horner von der Arbeit kommen, dann sind wir schon wieder weg.“
Für Pastor Kay Kraack war es ein historischer Tag. „Wir befinden uns in einer Situation mit großen Chancen“, sagte er in seiner Rede. „Hier in Horn liegt ein möglicher Grundstein dafür, Vielfalt und Toleranz zu leben.“ Tatsächlich wirkte die Stimmung in der Kirche gelöst. Später nahmen einige Horner die weißen Decken mit nach Hause, die die Muslime verteilt hatten, und nannten sie in Erinnerung an das Fest „Kapernaumdecken“. Aber vorher zog der bunte Tross aus Kirchenbesuchern auf die Wiese hinter dem Gebäude, um gemeinsam einen Apfelbaum zu pflanzen. Eine Anwohnerin schrieb in das Gästebuch: „Dieser Tag macht Hoffnung.“
Nicht alle Horner teilen diese Auffassung. Bei der Informationsveranstaltung von Al-Nour ein paar Wochen zuvor, bekannten sich einige im Publikum dazu, dass ihnen manche Dinge im Islam auch Angst machten. Die Unterdrückung der Frauen, aggressive Männer, die sich nicht an demokratische Grundrechte hielten. Es gibt noch viel Gesprächsbedarf zwischen Christen und Muslimen, das findet auch Ina Tiedemann. Zum Beispiel, sagt sie, höre sie immer, ein Muslim müsse dies und das tun. „Aber hat ein Muslim nur Pflichten? Im christlich-protestantischen Glauben ist die Liebe ja ganz wichtig. Der Mensch wird so angenommen, wie er ist. Gibt es das auch im Islam?“
„Unsere Türen sind offen für solche Gespräche“, sagt Daniel Abdin. Er plant schon interreligiöse Veranstaltungen, die Al-Nour in Horn anbieten will. Und die Sache mit dem Halbmond auf dem Kirchturm? Nun, die werde er zur Not im Stillen regeln, vielleicht nachts, ohne große Geste.
Salima Kizai sitzt auf einer Holzbank und sieht zum ersten Mal die Kapernaum-Kirche von innen. Ein schöner Raum, sagt sie. Aber auch fremd. Ob sie sich vorstellen kann, hier zu beten? Klar, sagt sie. „Wenn die Renovierung fertig ist, dann wird das wieder ein Ort des Glaubens und der Gemeinschaft.“ Und ob Christen, Juden oder Muslime hier beten würden, sei das nicht eigentlich egal? „Wir glauben doch alle an denselben Gott.“