chrismon: Herr Roth, entschuldigen Sie sich, wenn Sie anderen auf den Fuß treten?
Gerhard Roth: Natürlich tu ich das. Ich bin ja so erzogen worden.
Aber wenn Sie keinen freien Willen haben, sind Sie an Ihren Fehlern doch gar nicht schuld!
Roth: Selbst wenn ich als Wissenschaftler davon ausgehe, dass es Schuld im herkömmlichen Sinn nicht gibt, akzeptiere ich ein soziales Ritual, das das Leben der Menschen enorm erleichtert.
Micha Brumlik: Wenn Sie so reden, setzen Sie sich dem Verdacht aus, dass das, was wir Schuld nennen, nur ein zufälliges Ereignis ist. Dass es Zurechnungsfähigkeit nicht gibt. Dass Schuldgefühle überflüssig sind, es sei denn, sie dienen sozialen Ritualen, die alles wieder in Ordnung bringen.
Herr Roth, warum meinen Sie, der Mensch habe keinen freien Willen?
Roth: Ich leugne, dass der als frei empfundene Wille die Instanz ist, die mein Handeln bestimmt. Die Hirnforschung zeigt, dass im Gehirn bestimmte Prozesse ablaufen, wenn wir zu einem Willensentschluss kommen und dann entsprechend handeln. Man muss ja zwischen Freiheit des Wollens und des Handelns unterscheiden. Ich kann etwas wollen, ohne danach zu handeln. Und ich kann ohne Willensentschluss handeln. Ich rede mit Ihnen und greife nach dem Glas. Dem geht kein Entschluss voraus. Wenn Sie fragen: „Wer war das?“, sage ich: „Ich.“ Ich schreibe mir das trotzdem zu.
Brumlik: Ich hab mal einen jugendlichen Strafgefangenen gefragt: „Warum sind Sie im Knast?“ Er hat gesagt: „Ich hab halt eine unglückliche Familie gehabt.“ Das kann einfach nicht die Antwort gewesen sein.
Was würden Sie diesem jungen Mann sagen, Herr Roth?
Roth: „Ich akzeptiere, dass du subjektiv nichts dafürkannst. Dennoch hat der Staat Normen aufgestellt. Die hast du verletzt. Wir haben drei Möglichkeiten: abzuschrecken, umzuerziehen oder wegzuschließen.“
Hätte der Richter eigentlich keinen Schuldspruch fällen dürfen?
Roth: Nicht in diesem engen Sinn. Manche Strafrechtler wollen diesen engen Schuldbegriff deshalb auch abschaffen. Die Unterstellung, der Straftäter hätte anders handeln können, ist fiktiv. Man kann sie nicht nachweisen, im Gegenteil! Je schwerer die Schuld im strafrechtlichen Sinne, desto deutlicher ihre Bedingtheit durch Gene, negative frühkindliche Erlebnisse und soziale Umgebung. Vor Gericht wird ja nicht gesagt, der Täter hätte tatsächlich anders handeln können, sondern: Kann ein Mensch mit durchschnittlichen geistigen, psychischen Fähigkeiten in der Situation des Täters anders handeln? Wenn ja, ist der Täter schuldfähig.
Brumlik: Als Leiter eines Dokumentations- und Forschungsinstituts zur Geschichte des Holocaust habe ich gerade eine Ausstellung über den Frankfurter Auschwitzprozess hinter mich gebracht. Soll ich mir wirklich vorstellen, dass bei hunderttausend deutschen Männern, die sadistisch Menschen gequält haben oder Babys aus drei Meter Entfernung in den Kopf geschossen haben, die Gene dafür verantwortlich zu machen sind. Ich glaube nicht, dass man das nachweisen kann. Was man vielleicht nachweisen kann: Ich-schwäche auf Grund sozialer Einflüsse...
Roth: ... erst ab dem fünften Lebensjahr.
Micha Brumlik: „Da hat sich ausgerechnet Heinrich Himmler als Exemplar der Gattung Mensch entpuppt, das Gut und Böse unterscheiden kann.“
Brumlik: Selbst das glaube ich nicht. Die schlimmsten Verbrecher haben gewusst, dass ihr Tun den moralischen Normen zuwiderläuft. In seiner Posener Rede sagt Heinrich Himmler seinen Leuten, die eigenen Gewalttaten seien furchtbar, ekelhaft, aber sie müssten sie um der arischen Rasse willen tun. Da hat sich ausgerechnet Heinrich Himmler als Exemplar der Gattung Mensch entpuppt, das zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Und dieser Himmler ringt sich aus ideologischer Verbohrtheit durch, das zu tun, wovon ihn eine tiefer liegende Stimme des Gewissens abzuhalten sucht.
Roth: Sie haben Recht in Ihrer Skepsis. Trotzdem muss man genau hinsehen. Wenn man brutale, gefühllose Straftäter untersucht, gerade in dem Bereich, den Sie genannt haben, wird man immer fündig.
Brumlik: (Stöhnt)
Roth: Soweit deren psychischer Hintergrund – die Familie, die Sozialisierung und die Lebenserfahrung – dokumentiert ist, findet man oft schwere psychische Beeinträchtigung, gerade bei Himmler mit seinem tyrannischen und sadistischen Vater.
Brumlik: Ach ja (stöhnt).
Roth: Über die Kindheit von Schwerverbrechern ist viel geforscht worden. Solche Personen sind etwa zu vierzig Prozent selbst Opfer von Missbrauch. Sie waren früh gewalttätig und kriminell und sind überwiegend Männer. Hinzu kommen Vernachlässigung, schlechtes Vorbild, Drogenmissbrauch der Eltern. Alle haben schwere frühkindliche Bindungsstörungen.
Brumlik: Richtig ist: Je mehr dieser Belastungen in Kindheit und Jugend, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zum Straftäter wird. Das Problem ist nur, dass mindestens ebenso viele, die unter den identisch negativen Lebensbedingungen aufwachsen, keine Straftaten begehen.
Herr Roth, Sie reden oft von unverbesserlichen Soziopathen.
Roth: Nicht wir Hirnforscher reden von Soziopathen. Die Leute vom Strafvollzug fragen: „Sollen wir diese Täter als Soziopathen wegsperren oder aus dem Gefängnis entlassen?“ Die Hirnforschung hat gezeigt, dass ein Teil im unteren Stirnhirn für Mitleid, Mitgefühl, Ethik, Moral und Verantwortlichkeit sensibel ist. Dieser Hirnteil reift erst mit zwanzig Jahren aus. Er zügelt die unbewussten Zentren, die Impuls, Antrieb und Egoismus produzieren, und ist Sitz unseres Mitgefühls und Gewissens. Alle als Soziopathen gefürchteten Schwerverbrecher haben, soweit untersucht, dort anatomische Schäden.
Brumlik: Sehen Sie in diesen hirnorganischen Veränderungen die wesentlichen Ursachen für Fehlverhalten? Könnte es nicht auch anders sein? Stellen Sie sich vor: Im subsaharischen Afrika wird ein Vierzehnjähriger gekidnappt und jahrelang als Kindersoldat missbraucht. Könnten nicht die Grausamkeiten, die auszuüben er gezwungen wird, die Reifung im unteren Stirnhirn beeinträchtigen?
Roth: Das kann sein.
Brumlik: Aha.
Roth: Aber das sind Veränderungen auf subtilerem Niveau. Bei schweren Soziopathen findet man anatomische Defizite, die wohl auf vorgeburtliche Entwicklungsstörungen des Gehirns zurückgehen.
Sollte man Psychopathen von Geburt an präventiv behandeln?
Roth: Das wird ja schon getan. Das wissen nur die meisten nicht. Ein mit mir befreundeter Heidelberger Kinder- und Säuglingspsychiater hat eine Sprechstunde für Schreibabys. Da lernen Eltern von Problemkindern, wie sie sich verhalten sollten. Die meisten tun das Falsche und geben dem Drang der Kinder nach exzessiver sensorisch-motorischer Stimulation nach. Die Babys werden meist extrem unruhige Kinder. Ein Drittel wird später strafauffällig, oft mit Gewalttaten. Nun versucht man bei Schreibabys und auffälligen Kindern Prävention. Nichts tun wäre unmoralisch.
Brumlik: Was Sie beschreiben, ist entweder völlig harmlos, weil man Familien mit schwierigen Kindern Hilfe anbietet. Oder es führt in die Katastrophe. Die Frage ist, mit welcher Sicherheit man vorhersagen kann, dass derartige Personen später so gefährlich sein werden, dass man sie unter Dauerbeobachtung stellt. Der Roman von Philip Kerr, „Das Wittgensteinprogramm“, beschreibt das schon: wie durch massenhaftes Screening in der Bevölkerung mögliche Gewalttäter frühzeitig identifiziert und gegebenenfalls ausgeschaltet werden. So weit werden die Konsequenzen der Gehirnforschung wohl nicht gehen.
Roth: Ich bin mir, Herr Kollege, darin gar nicht sicher. Denn dies entscheidet ja nicht die Hirnforschung. Ich arbeite derzeit am Frühdiagnoseproblem in Gewalt- und Aggressionsforschung: Wie früh zeigt sich Gewaltneigung, wodurch könnte sie verursacht sein? Gerade wenn wir immer feiner erklären können, warum die einen nicht oder vorübergehend traumatisiert werden und die anderen schwer, kommen wir in ein moralisches Dilemma. Soll man eingreifen? Käme es je dazu, dass Verbrecherdiagnosen zu neunzig Prozent sicher wären und jemand wird Verbrecher, heißt es: „Wie konntet ihr das zulassen?“
Brumlik: Das hieße, dass wir bei jedem neugeborenen Baby die Spannbreiten seines Verhaltens prognostizieren könnten. Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Diese Phantasien sind Voodoo. Aber es sind Befürchtungen, die wir zu Recht hegen, denn am Ende steht das, was Aldous Huxley vor 72 Jahren in seinem Roman „Schöne neue Welt“ prognostiziert hat: eine total gelenkte, technokratisierte, freiheitsfeindliche Gesellschaft. Sehen Sie nicht auch die Gefahr, dass eine bestimmte Deutung der Hirnforschungsergebnisse zu neuen eugenischen Bewegungen führen könnte, wie wir sie in den zwanziger und dreißiger Jahren schon erlebt haben?
Roth: Die Rate verlässlicher Diagnosen bleibt noch lange Zeit gering. Ich sehe eine andere Gefahr. Wegen des öffentlichen Bedürfnisses nach Sicherheit wird vor Entlassungen aus dem Gefängnis großer Druck auf Gutachter ausgeübt. Könnten wir mit nur fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit voraussagen, ob jemand Schwerverbrecher wird, sagt die Gesellschaft: alle wegschließen, alle therapieren.
Brumlik: Was mich wundert: Wir reden in einer sehr deterministischen Weise über das Gehirn. Ich habe immer verstanden, die Hirnforschung zeige, wie veränderbar das Gehirn ist. Und dass gerade nicht seine vorhergehenden Zustände die nachfolgenden restlos vorherbestimmen.
Roth: Das stimmt nicht ganz. Der motorische Bereich des Gehirns ist extrem lernfähig. Pianisten können mit 80 Jahren noch wunderbar Klavier spielen. Der kognitive Bereich ist weniger formbar als der motorische, aber wir können mit 60 noch Fremdsprachen lernen. Nur das emotionale System, das die Persönlichkeit ausmacht, zieht sich schon mit der Pubertät zu und wird gegen Veränderungen immer resistenter.
Brumlik: Mich interessieren Lernprozesse aus Einsicht. Die Frage ist: Welches sind die Bedingungen der Einsicht? Sind es organische Ursachen? Sind es kritische Lebensereignisse, die einen zum Umdenken bringen? Aus meiner Generation kenne ich viele, die im Alter von 20, 25 totalitären Studentenparteien angehört haben. Leute, die heute noch schlecht schlafen, weil sie mal für den kambodschanischen Diktator Pol Pot demonstriert haben. Ich glaube, dass auch die Kraft des Mitleids und der Empathie eine Quelle der Einsicht ist.
Roth: Das ist völlig richtig und stimmt mit den Ergebnissen der Hirnforschung überein. Was den Menschen nicht ändert, ist der Appell an die Einsicht. „Sieh doch ein, dass du falsch liegst.“ Langsam wachsende Einsicht ist auch emotionale Einsicht: „Ich leide zunehmend unter dem, was ich angestellt habe.“ Der emotionale Druck steigt. Das ist das Einzige, womit Sie Menschen noch ändern können.
Der Südafrikaner Nelson Mandela ist in jahrelanger Haft Versöhner geworden, nicht Terrorist. War das keine psychische Eigenleistung?
Roth: Terroristen sind – ebenso wie Mandela – Menschen mit hohem motivationalem Drang, sonst würden sie sich nicht für ihre Ziele mit allen Mitteln einsetzen, mit dem eigenen Leben oder, wie Mandela, trotz Jahrzehnte dauernder Haft. Hinzu kommen Faktoren, die einen zum Terroristen werden lassen und beim anderen die psychische Energie in eine andere Richtung lenken. Eventuell machen schon schwache Unterschiede in der Sozialisierung einen zum Hitler oder zum Messias.
Eine seelische Eigenleistung erkennen Sie darin nicht?
Roth: Ich lehne nur ab, dass es rein seelische Motive gibt, reine Seelenkraft. Einen immateriellen Willensentschluss ohne Verbindung mit dem psychischen Umfeld, in dem ich aufwachse, kann es nicht geben.
Brumlik: Die Frage ist nur, ob wir dieser Spaltung in reine Seelenkraft und bedingtem Entschluss wirklich ausgesetzt sind. Ob es nicht etwas Drittes gibt, das Sie bereits angedeutet haben: das dichte Netz verstandener, akzeptierter sozialer Normen, verbunden mit einer erworbenen Fähigkeit, Überlegungen anzustellen. Sogar das von Ihnen so kritisierte heutige Strafrecht unterscheidet, ob Personen schuld- und verhandlungsfähig sind. Jemand, der sturzbetrunken war, ist ja in einem verminderten Ausmaß schuldfähig.
Roth: Nicht alles ist bedingt. Das Gehirn kann in unvorhergesehenen Situationen Zufallselemente einbauen, daher die kreativen Einfälle. Doch gerade für verantwortungsvolles Handeln ist Erziehung entscheidend. Man muss es lernen, und zwar früh: „Handle nach Regeln, die dir Liebe und Achtung deiner Mitmenschen garantieren!“ Oder: „Wenn du das tust, hat das die Konsequenz. Willst du das?“
Wenn unser Wille nur von äußeren Faktoren abhängt, bricht dann das jüdisch-christliche Menschenbild zusammen, nach dem der Mensch für alles Tun Gott Rechenschaft schuldig ist?
Brumlik: Ich glaube nicht, dass die Hirnforschung genügend Argumente für ein tragizistisches Weltbild hat im Sinne von: „Wir leben, wie wir leben. Und wenn etwas danebengeht, gibt es kein Bedauern, nur Klagen.“ Im Übrigen bräche ja nicht nur die jüdisch-christliche Tradition zusammen, sondern auch unser Alltag. Es gäbe keinen Grund, sich über den Sieg einer Fußballmannschaft zu freuen – Zufall! Leistung, Verdienst, Anerkennung wären so gegenstandslos wie die von Herrn Roth verketzerte strafrechtliche Schuld.
Roth: Wenn jemand aus meiner Heimat Bremen stolz auf die Leistung von Werder Bremen ist, frage ich: „Worauf bist du eigentlich stolz? Du hast nicht mitgespielt, viele Spieler kommen nicht aus Bremen.“ Stolz ist ein Konstrukt. Ich bestreite nicht, dass Verantwortung und Menschenwürde sehr, sehr wichtig sind. Aber auch die sind Konstrukte. Wir sagen: „Die Menschenwürde ist unantastbar“, obwohl wir wissen, sie wird ständig mit Füßen getreten.
Herr Brumlik, sind Schuld und Verantwortung ein Konstrukt, damit wir friedlich zusammenleben?
Brumlik: Mir wäre das zu wenig. Ich glaube, dass Schuld eine menschliche Realität ist. Sonst würden wir unser eigenes Leben, wie wir es täglich führen, nicht mehr ernst nehmen. Eine wissenschaftsgestützte Infragestellung der Schuld würde gesellschaftlichen Prozessen Tür und Tor öffnen, in denen wirklich niemand mehr seines Lebens und seiner Würde sicher sein könnte.