Was ist das Gewissen?
Seit Adam und Eva in den Apfel bissen, bewegt die Menschen eine innere Unruhe. Sie meldet sich meist zur Unzeit - und mit quälenden Fragen
06.08.2013

Willi Wiberg, sieben Jahre alt, kann nicht einschlafen. Er hat heute jemanden geschlagen, der kleiner ist als er. Diesen kleinen Jungen mit dem Ball! Es ist fast so, als ob irgendetwas Unheimliches im Zimmer wäre. Plötzlich begreift er: Unter seinem Bett ist ein Ungeheuer!

Das Ungeheuer, das Willi Wiberg in Gunilla Bergströms Kinderbuch unterm Bett wähnt, ist sein Gewissen, das ihn drückt. Bergströms Geschichte weist darauf hin: Schon Kinder haben mit jenem wichtigen und oft komplizierten Prozess zu tun, der uns in unseren Gefühlen und Handlungen bestimmt. Etwas, was uns Menschen beschäftigt, seit Adam und Eva im Paradies gegen Gottes Verbot in den Apfel bissen und sich daraufhin ihrer Nacktheit schämten. Was aber ist das Gewissen?

Nach Sigmund Freuds klassischer Definition besteht die menschliche Seele aus drei Machtbereichen, die oft miteinander im Konflikt stehen: Als "Über-Ich" versteht Freud alles, was uns als gut und böse, was uns an Normen und Grundsätzen anerzogen und häufig mit Verboten oder Tabus eingetrichtert wurde. Gegen dieses "Über-Ich" löckt immer wieder der Stachel des "Es". Die "Es"-Sphäre ist für Freud alles Triebhafte im Menschen, alles, was wir ohne Einschränkung ausleben möchten. Gleichsam als Zähmung beider Extreme konstruiert Freud einen dritten Bereich, das "Ich". In der "Ich"-Sphäre bildet sich das, was ein Mensch mit ausreichendem Selbstbewusstsein und mit Realitätssinn als sein Lebenskonzept ansieht. Es ist die Fähigkeit eines Menschen, sich selbst, sein Wollen und sein Verhalten an einem Maßstab zu messen. Der Philosoph Immanuel Kant nannte diesen Entscheidungsprozess des Gewissens "das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes des Menschen".

Aber aus welchen Normen und Vorstellungen entsteht dieses eigentümliche Bewusstsein, was sind die Maßstäbe unseres Gewissens? In der alten christlichen Dogmatik heißt Gewissen conscientia, lateinisch für: Mitwissen. Gemeint ist hier das Mit-Wissen mit dem Willen Gottes.

Der entscheidende Schlüssel zur Bildung eines christlichen Gewissens ist, wie Menschen Gottes Wort hören

Für den Reformator Martin Luther hatte solches Mitwissen eine ganz besondere Bedeutung. Auch er wollte unbedingt Gottes Willen erkennen und nach ihm handeln. Darüber geriet er in eine schwere Krise, weil er an den starren Glaubensregeln und Bußübungen seiner Zeit scheiterte. Schließlich musste Luther erkennen, dass er die Wahrheit über sein eigenes Leben nicht durch das Ableisten von "guten Werken", durch kirchlich geforderte Buß- oder Gebetsübungen erfahren konnte. Im Gegenteil: Die Menschen, kirchliche Würdenträger natürlich eingeschlossen, erreichen aus eigener Kraft wenig. Sie brauchen gleichsam einen Impuls von außen, einen Impuls, den sie aber aus freien Stücken aufnehmen müssen, damit er ihnen hilft.

Für Luther liegt dieser Impuls im Hören auf Gottes Wort, so wie er es in der Bibel fand. Ihm ging es dabei nicht um eine sklavische Befolgung irgendwelcher Gebote, sondern um eine ehrliche, offene Auseinandersetzung mit dem, was er dort fand, zum Beispiel das Gebot der Nächstenliebe. Die immerwährende kreative Auslegung der Bibel ist bis heute die entscheidende Grundlage christlicher Gewissensbildung. In welcher Haltung und Erwartung die Menschen auf Gottes Wort hören, das ist also der entscheidende Schlüssel zur Bildung eines christlichen Gewissens. Die Freiheit der eigenen Entscheidung ist dabei wichtig, ja unersetzbar.

Ein solches Gewissen kann den Menschen in schwierige Situationen führen. Für Martin Luther war das zum Beispiel die denkwürdige Stunde vor dem Reichstag zu Worms 1521, als der Kaiser ihn zwingen wollte, seinen Ideen abzuschwören. Er aber blieb standhaft und folgte seinem Gewissen: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir." Nicht immer ist eine Gewissensentscheidung so dramatisch. Aber immer wieder – das lehrt nicht nur die Bibel, sondern das zeigen auch viele Alltagssituationen – geht es um Grundsätzliches in der Beziehung zu den Mitmenschen, die für Christen die "Nächsten" sind.

So auch bei Willi Wiberg. Er hat einen kleinen Jungen geschlagen, einfach so, im Zorn. Sein Gewissen meldet sich am Abend, und zwar wie ein knurrendes, drohendes Ungeheuer unter dem Bett. Dass er nicht recht gehandelt hat, müssen ihm keine strengen Eltern oder Lehrer sagen, sondern das sagt ihm sein Gewissen. Willi Wiberg sucht den kleinen Jungen und findet ihn. Er versöhnt sich mit ihm und kann dann wieder durchatmen – erleichtert in seiner Seele und endlich wieder mit gutem Gewissen.

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