"Diesen Satz spreche ich schon lange nicht mehr mit", sagt die Frau verbittert. "Diesen nicht! Ich habe in den vergangenen dreißig Jahren in meiner Kirchengemeinde viel erlebt, was ganz und gar nicht heilig ist." Was ihr solche Probleme macht, ist ein Satz aus dem Glaubensbekenntnis, das jeden Sonntag in den Gottesdiensten gesprochen wird: "Ich glaube an die heilige christliche Kirche." Dem steht ihre Erfahrung entgegen, dass es im Kirchenbetrieb manchmal allzu irdisch zugeht. Neid, Zank und langweilige Gottesdienste – nein, winkt sie ab, mit der Heiligkeit der Kirche sei es nicht weit her.
Ist es nicht tatsächlich vermessen, wenn sich die Kirche das Attribut heilig zulegt? Schließlich sind in ihr auch nur Menschen am Werk, und es gibt nicht wenige Kapitel in der Geschichte der Kirche, die an ihrer Heiligkeit zweifeln lassen: Kreuzzüge, Judenhass, Hexenverbrennungen und verlotterte Päpste. Doch trotz all dieser Schwächen und historischen Verfehlungen beharrt der christliche Glaube darauf, dass die Kirche heilig sei. Wie das?
Bei dem Satz "Ich glaube an die heilige christliche Kirche" geht es zunächst einmal nicht um ihre hauptamtlichen Mitarbeiter. Die Kirche, die im Glaubensbekenntnis gleichsam heilig gesprochen wird, meint die Gemeinschaft aller getauften Menschen. Wichtiger aber ist, vor allem für Protestanten: Christen glauben an sich selbst als Teil von etwas Größerem, als Teil der "Gemeinschaft der Heiligen".
Der Protestantismus hat nämlich einen doppelten Kirchenbegriff: Es gibt einerseits die sichtbare Kirche, die sich weltweit in ihren Personen und Werken zeigt, und die unsichtbare Kirche, die wie ein inneres geistliches Band alle Christen vor Gott zusammenführt, auch die unterschiedlichen Konfessionen. Diese unsichtbare Kirche ist nach evangelischem Verständnis die "heilige christliche Kirche" des Apostolischen Glaubensbekenntnisses.
Heilig in Bezug auf die Kirche heißt nicht fehlerfrei und sündlos
Der dritte Artikel dieses Bekenntnisses beginnt so: "Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen." Nach evangelischem Verständnis ist Kirche dort, wo "die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden". So steht es im siebten Artikel des Augsburger Bekenntnisses aus dem Jahre 1530. Er macht deutlich, wie wichtig für den Glauben die Gemeinschaft ist, ja ohne Gemeinschaft ist Glaube kaum denkbar. So bringt es auch Jesus zum Ausdruck: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." (Matthäusevangelium, Kapitel 18, 20).
Dass für die Heiligkeit der Kirche nicht die bloße Erfüllung bestimmter Gebote den Ausschlag gibt, lässt sich aus dem achten Artikel des Augsburger Bekenntnisses entnehmen. Der stellt ganz realistisch fest, dass auch "unter den Frommen viele falsche Christen und Heuchler, auch öffentliche Sünder" sind. Zugleich betont er aber, dass auch deren kirchliches Wirken und Werken, zum Beispiel die Verwaltung der Sakramente, "gleichwohl wirksam" ist. Dies könnte Menschen, die ob des realen Gemeindelebens zuweilen an der Kirche verzweifeln, trösten. Außerdem beugt es dem Missverständnis vor, Kirchenmitglieder seien bessere Menschen. Heilig in Bezug auf die Kirche heißt nicht fehlerfrei und sündlos.
Anders als die evangelischen Christen, die zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche unterscheiden, gehen die katholischen davon aus, dass historische Gestalt und geistliche Dimension in ihr weitgehend identisch sind und dass die heilige, allgemeine (mit dem griechischen Wort: katholische) Kirche nur in der römisch-katholischen Kirche vollständig verwirklicht ist. Deshalb sind andere christliche Konfessionen nach ihrem Verständnis nicht Kirchen, sondern "kirchliche Gemeinschaften".
Was ist heilig an der Kirche? Für Protestanten weder Amt noch Institution, sondern das, was Martin Luther so auf den Punkt brachte: Christus schenkt den Sündern (auch jenen in der Kirche!) "himmlische Reinheit, Gerechtigkeit und Herrlichkeit und nimmt dafür ihre Sünde, Ungerechtigkeit und Strafe auf sich". Mit moralischem Selbstlob der Kirche hat das rein gar nichts zu tun.
Anmerkung zum Artikel
Aktuell ist der Ruf der "heiligen" ev.-luth. Kirche durch Veröffentlichung der ForuM-Studie zu sex. Mißbrauch belastet. Da ist es natürlich hilfreich, eine Deutung der Gebetsformel "Ich glaube ... an die heilige christliche Kirche" auf so etwas Diffuses wie "Gemeinschaft der Gläubigen" zu verlagern. Explizit wird in der Studie die sogenannte "Deutungsmacht" von Pastoren und Institution bemängelt, und mir scheint, dieser Kritik müssen auch Sie ausgesetzt werden.
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