Einflugschneise überm Gotteshaus, gelassene Portugiesen. Und Nägel im Pfarrhaus fürs das Bild des Pastors - wenn er mal gehen wird

Es wird so richtig laut in unserer Kirche. Das Geräusch beginnt ganz zart, schwillt dann an, entwickelt sich zu einem lauten Brausen und Brummen, um dann wieder abzuebben. Manchmal wünsche ich mir, es wäre unser Gemeindegesang. Aber es ist ein weiteres Flugzeug, das die Einflugschneise des Lissabonner Flughafens nimmt - und dabei in nur wenigen Meter Höhe unsere Kirche passiert. Ich unterbreche die Predigt kurz und blicke in die Gemeinde. Wir sehen uns an und warten, bis es wieder leise ist. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt. Die Menschen haben Zeit, über die Predigt nachzudenken oder weiterzuträumen.

Kirche und Pastorat liegen vergleichsweise zentral in der Stadt - auf einem Grundstück mit Garten. Eine Portugiesin hat uns mal gesagt, der Deutsche brauche immer ein wenig Garten um sein Haus. Franzosen würden alle in Estrela wohnen, einem schicken alten Stadtviertel mitten in Lissabon, das an Paris erinnere. Die Spanier seien alle auf der Expo, sie lieben es modern. Jeder nach seinem Gusto. Aber der Deutsche, der brauche Garten. Wohl deshalb wohnt ein Großteil unserer Gemeindeglieder vor den Toren der Stadt, 40 Kilometer und mehr von ihrer Kirche entfernt.

Gemeinde 250 Jahre alt

Als Kirche und Pastorat im Jahr 1934 gebaut wurden, lagen sie auch noch außerhalb der Stadt, daher das großzügige Grundstück. Die Gemeinde ist älter als ihre Kirche. 25 Bilder von früheren Pfarrern hängen im Flur unseres Pfarrhauses, vier von ihnen leben noch, für meine Frau und mich sind auch schon Nägel in die Wand geschlagen. Jeder blieb im Schnitt zehn Jahre, so dass wir 2011 unser 250. Gemeindejubiläum feiern. Damit ist unsere Gemeinde nach Stockholm und London die drittälteste deutsche evangelische Auslandsgemeinde. Auf das Alter ist man hier sehr stolz. Einige Gemeindemitglieder stammen aus deutschen Familien, die seit über zehn Generationen in Portugal leben.

Am Allerheiligentag 1755 wurde Lissabon von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht. Zehntausende kamen ums Leben. Viele Bewohner der Stadt wurden ausgerechnet von einstürzenden Kirchen verschüttet, als sie die Messe besuchten. Wer sich auf den großen Platz am Tejo retten konnte, ertrank in einem gewaltigen Tsunami, der eine halbe Stunde später einschlug. Die prächtige Handelsmetropole Lissabon wurde beinahe völlig zerstört. Die Katastrophe erschütterte damals den Optimismus der Aufklärer und warf die Theodizeefrage neu auf: Ein gütiger Gott könne solch ein Elend unmöglich gewollt haben!

Die erste evangelische Glocke läutete 1961

Die evangelischen Deutschen in Lissabon verarbeiteten die Naturkatastrophe offenbar anders. Unter ihrem Eindruck kam es 1761 zur Gemeindegründung. Im Schutz der holländischen Gesandtschaft wurde damals ein erster Prediger engagiert, der Niederländer Johannes Schiving. Er war der deutschen Sprache mächtig. Vor 75 Jahren entwarf der damals europaweit bekannte Architekt Otto Bartning, Vorreiter des modernen protestantischen Kirchenbaus, Kirche mit Turm und angrenzendem Pfarrhaus. Sie wurde im Jahr nach der Machtergreifung Hitlers eingeweiht ohne den von Hitler eingesetzten Reichsbischof Ludwig Müller. Wäre er gekommen, hätte der damalige Lissabonner Pfarrer Paul Gennrich seine Teilnahme abgesagt.

1961 läutete unsere Glocke als erste evangelische auf der iberischen Halbinsel. Bis dahin war so etwas Protestanten nicht erlaubt. Erst im vergangenen Jahr hat der portugiesische Staat uns offiziell als kirchliche Gemeinschaft anerkannt - nach 248 Jahren. Mit den katholischen Nachbargemeinden kommen wir gut aus, auch wenn wir für viele Portugiesen vermutlich noch immer eine Art Sekte sind. Aber das ändert sich rasant, wie beinahe alles in diesem Land.

Extreme Bürokratie

1974 hatte sich das kleine Land mit einem Militärputsch während der sogenannten (friedlichen) Nelkenrevolution von der Diktatur befreit, die António Carmona Ende der zwanziger Jahre errichtet hatte. Portugal hat sich seither in die Moderne katapultiert. Die Entwicklung treibt vor allem in den großen Städten seltsame Blüten. Modern sind das Bankwesen, die riesigen Einkaufszentren - die größten Europas - und die zum Teil unüberlegten und kaum befahrenen Autobahnen auf dem Land. In den Behörden des Landes weht dagegen noch ein Wind aus früheren Zeiten.

Für die ordnungsgemäße Anmeldung unseres Hundes benötigte ich drei Behördengänge. Ich wurde tatsächlich gefragt, wie lang sein Schwanz sei, und musste das den beiden Damen (es waren zwei! ) mehrfach mit meinen Händen zeigen. Tycho, unseren Hund, hatte ich nicht mitgenommen. Unser portugiesisches Autokennzeichen hat mich auch Haare gekostet. Für die Anmeldung haben wir eine Agentin engagiert. Es dauerte dennoch fast neun Monate. In der Zeit werden manche zu Eltern.

An den Türen keine Namensschilder

Bildhaft für die seltsame Mischung aus alter Republik und Moderne ist der öffentliche Nahverkehr. Die alten Straßenbahnen aus den 30er Jahren quälen sich durch die engsten Gassen der Altstadt. Die ruckelige Fahrt, oft nur Zentimeter an Hauswänden vorbei, ist ein kleines Abenteuer. Demgegenüber das moderne Netz der Lissabonner Metro: schnell, verlässlich und mit schön gestalteten Stationen ein unterirdisches Kunstwerk.

Bei Gemeindebesuchen verlasse ich mich auf unser GPS. Wegen eines Unfalls staute sich neulich alles. Man sieht beinahe täglich Unfälle. Die Portugiesen nehmen sie offenbar mehr als gelassen. Ich habe noch keinen Portugiesen lauthals schimpfen sehen. Sie steigen aus, ziehen ihr obligatorisches neongelbes Leibchen an und halten ein Schwätzchen, bis die Polizei kommt. Ein Deutscher, der seit vielen Jahren hier lebt, hat mir einmal gesagt: "Das regt sie gar nicht auf. Das haben die Portugiesen uns voraus." Schließlich kam ich doch an mein Ziel. Die ältere Dame wohnte in einem Hochhaus. An der Tür merkte ich, dass ich vergessen hatte zu notieren, in welchem Stock, in Portugal gibt es keine Namenschilder an der Tür. Angeblich rührt das aus den Zeiten der Diktatur her. Wer das Stockwerk nicht weiß, kommt nicht weiter. Zum Glück ging meine Frau zu Hause ans Telefon und sah nach.

Empfang für die Bundeskanzlerin

Dieses Jahr habe ich 19 Konfirmanden gesegnet - und das bei nur etwa 350 eingetragenen Gemeindemitgliedern. Sie kommen fast alle von der Deutschen Schule, wo meine Frau und ich unterrichten. Viele bleiben mit ihren Eltern nur ein paar Jahre und treten unserer Gemeinde nicht offiziell bei. Dazu kommen Kinder einer freikirchlichen Gemeinde sowie zwei britische Kinder aus der befreundeten anglikanischen Gemeinde. Sie sprechen deutsch, und in ihrer Gemeinde wird keine Konfirmandenzeit angeboten. Unkomplizierte Ökumene.

An einem Freitag im April am späten Nachmittag klingelte unser Telefon - die Frau des Vizebotschafters. Sie ist Gemeindekirchenrätin und klang aufgeregt, was ich gar nicht von ihr kenne. Frau Merkel komme überraschend nach Lissabon, sagte sie. Wegen der Aschewolke aus einem isländischen Vulkan müsse sie in Lissabon landen. Ob ich für ihre Delegation ein Restaurant mieten könne? 30 Personen. Sie kümmere sich um den Stehempfang. Die Bundeskanzlerin selbst treffe sich unterdessen mit dem portugiesischen Regierungschef José Sócrates. Wohl wegen der hohen portugiesischen Staatsverschuldung, dachte ich mir. Ich reservierte das Restaurant und überlegte, ob ich die Pastorentochter Merkel noch in unseren Gottesdienst einladen sollte. Aber dann flog sie doch am nächsten Tag nach Rom weiter.

2017 soll auf der anderen Flussseite des Tejo der neue Airport von Lissabon in Betrieb gehen. Gut, wir sind in Portugal. Sagen wir: Wahrscheinlich wird es bis 2021 dauern. Dann werden sie in der Gemeinde sagen: "Was war das früher schön, als wir während der Predigt immer wieder mal innehielten! " Hauptsache, wir singen dann nicht leiser. Sondern lauter als jedes Flugzeug.

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