einen Ausweg bieten. Besuch in einer Bremer Dementen-WG.
„Du bist dran“, drängt Frau Lutz, eine elegante Dame in einem schmal geschnittenen Seidenrock. Um die Taille trägt sie einen geflochtenen Gürtel. Frau Schröder zögert. Konzentriert blicken beide auf die quadratische Tischplatte, auf der Täfelchen mit verschiedenfarbigen Zahlen in Holzbänkchen aufgereiht stehen. „Rummy Cup“ heißt ihr Spiel, eine Art Rommé mit Zahlentäfelchen. Frau Schröder legt drei Karten auf den Tisch, ihre Mitspielerin prüft sie mit einem schnellen Blick. „Weiter“, drängt Frau Schröder – eine Dame mit Perlenkette und weißer Bluse.
Dienstagmorgen in einer Wohngemeinschaft der Bremer Heimstiftung für demente Menschen in Borgfeld. Das Haus liegt etwas abseits in einem Neubaugebiet am Rand der Hansestadt Bremen, einer flachen, von der Wümme und zahlreichen Wassergräben durchzogenen Gegend. Im Zentrum der großen Wohnung mit hohen Decken steht ein massiver Esstisch, der rund 15 Personen Platz bietet. Daneben der Spieltisch von Frau Schröder und Frau Lutz. Was man nicht gleich bemerkt: Die Frauen sind dement. Allein können sie keinen Haushalt mehr führen.
Ab dem 80. Lebensjahr sind 10,3 Prozent der Männer und 12,8 Prozent der Frauen in Deutschland durch Demenz beeinträchtigt, vom 85. Lebensjahr an ist es jeder Fünfte und nach dem 90. Jahr etwa jeder Dritte. Der „Demenz-Report“ des „Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“ schätzt die Zahl der Dementen auf 1,3 Millionen – und prognostiziert doppelt so viele bis 2050. Wegen des Geburtenrückgangs werden weitaus weniger Angehörige aus der nachfolgenden Generation sie häuslich pflegen können als heute. Gleichzeitig wünschen sich viele eine Alternative zum Pflegeheim.
Gute Betreuung kostet Geld
Kann eine Wohngemeinschaft wie die in Bremen-Borgfeld so eine Alternative für Demente bieten? Für Menschen, die unter Gedächtnisverlust, mangelnder Orientierung und Stimmungsschwankungen leiden – unter Einschränkungen, die mit den altersbedingten hirnorganischen Veränderungen einhergehen?
###mehr-extern###Anders als in einem Heim mit Rundumversorgung leben in einer Wohngemeinschaft möglichst nicht mehr als zehn Personen; ambulante Pflege- und Hauswirtschaftsdienste stehen den Bewohnern 24 Stunden am Tag bei. Seit dem 30. Oktober 2012 fördert die Pflegeversicherung solche Wohngemeinschaften. Die Bewohner erhalten zusätzlich zu gesetzlichen Versicherungsleistungen eine Pauschale von 200 Euro im Monat. Für private WG-Gründungen gibt es Finanzierungshilfen.
Als gemeinnütziger Träger betreibt die Bremer Heimstiftung mehrere WGs für Demente. Die Bewohner leben in einem eigenen Apartment oder Zimmer und werden betreut. Der Eigenanteil für Miete, Haushaltsgeld und Betreuungspauschale: monatlich zwischen 2000 und 2300 Euro, unabhängig von der Pflegestufe! So viel Geld muss man erst einmal haben.
Im Eingangsbereich der Borgfelder WG hängt ein Abreißkalender, daneben ein Gruppenfoto der Wohngemeinschaft, aufgenommen vor etlichen Monaten. Zwei WG-Mitglieder sind seither gestorben, zwei neue an ihre Stelle gerückt. Die Heimstiftung sucht die Bewerber aus.
Frau S. blättert viel in der „Süddeutschen Zeitung“. Oder sie schaut auf dem Balkon den Bauarbeitern gegenüber am Neubau zu. Sie lebt noch nicht lange in Bremen. Wenn sie aus ihrem Leben erzählt, klingt es, als halte sie die Erinnerungen fest. An die Eltern, die früh starben. Wie die große Schwester und Tante und Onkel sie großzogen. Wie sie Ski fahren lernte, in England und Frankreich als Au-pair arbeitete, als Büroangestellte selbstständig durchs Leben kam und nie heiraten wollte. Die Verwandten im Süden sind tot. Ihrer Nichte war es recht, dass sie zu ihr nach Bremen zog.
Privatsphäre innerhalb der Gemeinschaft mit Anderen
Als exotisch gelten Senioren-Wohngemeinschaften längst nicht mehr. Das Bundesgesundheitsministerium preist sie auf seiner Internetseite als geeignete Wohnform für pflegebedürftige Menschen an. Ihr Vorteil: Man erhält seine Privatsphäre und lebt in Gemeinschaft mit anderen.
Kann die Alters-WG wirklich eine Art Zuhause werden? Immerhin kannten sich die Menschen, die sich hier den Wohnraum teilen, vor ihrem Einzug gar nicht. Ihrem Lebensweg nach sind Frau Schröder und Frau Lutz sehr verschieden. Die eine ist die bodenständige Witwe eines Schulhausmeisters. Die andere, Frau Lutz, war früher eine unter dem Bühnennamen Beate Lenders bekannte Theaterschauspielerin. Freundschaften wie diese ergeben sich sonst selten, hier aber schon.
Die Damen haben für ihr Spiel die große gemütliche Wohnküche gewählt, in der auch alte Schmuckstücke der Bewohner ihren Platz finden. Eine mit Holzornamenten verzierte Truhe mit der Jahreszahl 1747 steht hier, ein Ölgemälde von einem Seglerhafen hängt an der Wand. Die Bremer Heimstiftung versteht es gut, eine häusliche Umgebung herzustellen. Wer Geselligkeit sucht, kommt in den Gemeinschaftsraum. Wem es hier zu betriebsam wird, der zieht sich zurück – in eines der zehn Einzelzimmer.
Während Frau Schröder und Frau Lutz ihr Spiel am kleinen Tisch fortführen, setzt die Pflegeleiterin Elke Krappitz einen Mann im Ausruhbereich des Gemeinschaftsraumes aufrecht in den Liegesessel. Er soll trinken. Wegen eines Schlaganfalls kann er weder sprechen noch gehen. Mit einer Hand umklammert er ihr Handgelenk und drückt es weg. Sie hält dagegen und schiebt ihm mit der anderen Hand einen Strohhalm zwischen die Lippen. Ihr Gesicht rötet sich vor Anstrengung.
Eine schwerdemente Frau mit offenen weißblonden Haaren taucht wiederholt auf und verschwindet schnell wieder. Sie scheint sich nirgendwo zugehörig zu fühlen. Ein paar Mal hält eine andere Dame, Frau M., sie am Arm fest. Die Frau, die eben noch geistig abwesend zu sein schien, schmiegt sich eng an Frau M., beide laufen ein Stück durchs Zimmer und auf den Balkon. Sie sehen zufrieden aus.
Zwei ambulante Pflegekräfte sind tagsüber in der Borgfelder WG. Vier Bewohner brauchen Hilfe beim Aufstehen, beim Toilettengang, Waschen und Anziehen. Aus einem Zimmer dringen von Zeit zu Zeit laute Rufe wie „Holla“, „Hallihallitalli“. Die anderen WG-Bewohner reagieren nicht.
"Ich weiß nicht, was ich machen soll" - Wenn Mittagessen zur Herausforderung wird
Amin Memari ist Altenpfleger und heute hier im Dienst. Er kam in den neunziger Jahren als iranischer Flüchtling nach Deutschland. Nun kündigt er einen Spaziergang an. In die Gruppe kommt Bewegung. Im Nu stehen die Frauen vor der Haustür. „Alleine dürfen wir ja nicht“, sagt Frau Lutz achselzuckend, als halte sie die Vorsicht der Pflegekräfte für übertrieben. Frau M. hält ihre schwerdemente Freundin an der Hand. Frau Lutz fährt Frau Schröder im Rollstuhl. Der Pfleger schiebt ebenfalls eine alte Frau im Rollstuhl. Die Gruppe zieht an den Wassergräben entlang durchs Neubaugebiet, einige sind Arm in Arm eingehakt. Der Himmel ist blau, und es weht ein kräftiger Wind.
„Frau Schröder, unser Apfelbaum“, ruft Amin Memari, „da gehen wir im Herbst ein bisschen klauen.“ Zwei Damen preschen ihm etwas zu weit vor. Der Pfleger ruft, dass sie warten sollen. An einer Straßenecke kommt eine Nachbarin aus dem Haus gelaufen. Man kennt sich. Die Rentnerin aus dem Viertel besucht einmal in der Woche die Alten-WG. Nach der Rückkehr in die gemeinsame Wohnung nehmen Frau Schröder und Frau Lutz ihr Zahlenspiel wieder auf. „Das geht nicht, die schwarze 6 in der roten Reihe“, moniert Frau Lutz. „Frau Schröder, nicht schummeln“, ruft Memari. „Ich nicht, Frau Lutz wollte schummeln“, sagt sie.
Zum Mittagessen werden die Bewohner in die Wohnküche gebracht, auch die Frau, die vorhin aus ihrem Zimmer mit Hallitalli-Rufen zu hören war. Während die Leiterin sie stützt, tönt sie durch den ganzen Raum: „Hallitallitalli,
da kommt das Baby. Ohne Zähne. Mit Gehwagen.“ Tatsächlich trägt sie kein Gebiss. Bei Tisch schaltet sie auf eine leisere Tonart um. Frau Schröder und Frau Lutz müssen vom Spiel zum Essen gebeten werden. „Immer mit der Ruhe und dann mit’m Ruck“, meint eine von ihnen, die Umstehenden lachen. Eine Bewohnerin fehlt. Sie nimmt nicht am Essen teil. Sie komme nur manchmal, heißt es – zum Kaffee.
Die Köchin stellt die Schüsseln auf den Tisch. Die Bewohner nehmen sich so viel, wie sie möchten, oder bitten das Pflegepersonal um Hilfe beim Auftun. Es gibt Speckbohnen, Kartoffeln und kleine panierte Schweineschnitzel. Die Pflegekräfte und die Köchin essen mit. Zwischendurch füttern sie zwei Bewohner, die nicht alleine essen können.
Ein alter Mann im Anzug begleitet die Mahlzeit mit einem tiefen Summton, sonst ist es recht still. Eine Bewohnerin sagt leise zu ihrer Nachbarin: „Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.“ Und nach einer Weile mit ratlosem Blick: „Und was mach ich jetzt?“ Die Atmosphäre in der Borgfelder Wohngemeinschaft scheint gelassen und heiter zu sein.
Keine festen Qualitätskriterien für Alten-WGs
Wie bewerten Experten den Trend zur Alten-WG? Anruf bei der Pflegeexpertin Christiane Lehmacher-Dubberke vom AOK-Bundesverband. Es gebe „augenblicklich kaum Wissen über Anzahl, Strukturen und die Versorgung in dieser Wohnform“, sagt sie. In 11 der 16 Bundesländer würden selbstbestimmte WGs nicht unter das Heimgesetz fallen. Damit gelten auch nicht die sonstigen Vorschriften: Wie viel ausgebildetes Personal muss wann da sein? Wie gut ist die Betreuung, und wie wird diese Qualität überwacht? Das sei „nur bedingt“ geregelt, klagt die Expertin. In einigen Bundesländern bestehe nicht einmal Meldepflicht für ambulant betreute Wohngruppen.
Ob der Trend zur Alten-WG gut sei oder nicht, lasse sich daher nicht allgemein beantworten. Alten-WGs operieren vielerorts in einer rechtlichen Grauzone. In Bremen sorgt immerhin das „Gesetz zur Sicherstellung der Rechte von Menschen mit Unterstützungs-, Pflege- und Betreuungsbedarf in unterstützenden Wohnformen“ seit 2011 für Transparenz. Es nennt Qualitäts-kriterien für Betreuung und Unterbringung. Auch hier ist die Borgfelder Wohngemeinschaft eine Vorzeigeeinrichtung. „Die WG schreibt den Bewohnern nicht vor, wie sie leben sollten“, sagt Pflegeleiterin Elke Krappitz. Ob sie beim Kartoffelschälen helfen, den „Weser-Kurier“ lesen oder bis in die Nacht hinein fernsehen, darüber bestimmen sie hier in Borgfeld selbst – nicht der Tagesplan des Personals.
Selbstbestimmung bedeutet Lebensqualität
Dass den Bewohnern „ganz viel Selbstbestimmtes erhalten“ bleibe, trage dazu bei, die Ängste der an Demenz erkrankten Bewohner zu mindern, sagt Krappitz. Den Bewohnern würden deutlich weniger Psychopharmaka verschrieben als in anderen Einrichtungen üblich. Für die Leiterin heißt das, den ganzen Tag in Bewegung zu sein. Im Vergleich zu vielen Heimen ist die Zahl der Pflegekräfte pro Bewohner in den Einrichtungen der Bremer Heimstiftung hoch. In Früh- und Nachmittagsschicht kommen zwei Pfleger auf die zehn Bewohner, nachts einer.
Selbstbestimmung bedeutet für Krappitz, dem eigenen Rhythmus folgen und eigene Grenzen setzen zu dürfen: „Nicht um sieben Uhr geduscht zu werden, damit der Frühstückstisch rechtzeitig abgeräumt werden kann. Und im Bett bleiben zu können, wenn man nicht aufstehen möchte.“ Manche Bewohner seien Nachteulen. Ein Bewohner „toleriert keinen Arzt“. Grenzen wie diese würden nicht gewaltsam überschritten, sondern respektiert.
„Wenn ein dementer Herr darauf besteht: ,Ich muss jetzt raus, meine Tochter wohnt da drüben’, kann er böse werden. Da muss sich mindestens eine Pflegekraft auf den Wunsch einlassen, manchmal sogar beide. Das kann bedeuten, Jacke und Schuhe zu holen und den nach der Tochter suchenden Menschen geduldig bis an die nächste Straßenecke zu begleiten“, sagt Elke Krappitz.
Validation, so wird solch eine wertschätzende Haltung gegenüber Demenzpatienten genannt. Man versucht, die Emotionen zu akzeptieren („validieren“), sich vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte in den dementen Menschen hineinzuversetzen und ihm die Möglichkeit zu geben, schmerzliche Gefühle auszudrücken. So mildere man die seelische Not. Doch „auch Validation hilft nicht immer“, sagt Krappitz. Manchmal müsse man dementen Menschen ihre neue Lebenssituation bewusst machen und sagen: „Ihr Zuhause ist jetzt hier. Und ihre Tochter wohnt da nicht.“
Das Dampfbügeleisen zischt leise, der Duft von frischer Wäsche verbreitet sich in der Wohnküche. Alltag. Nun ist Schichtwechsel. Weil es draußen so schön ist, wird noch einmal ein Rundgang angeboten. Diesmal geht sogar die alte Frau mit, die im Rollstuhl sitzt und sonst nur zum Kaffeetrinken aus ihrem Zimmer kommt.
Zum Kaffee am Nachmittag erscheint die Tochter einer der Damen zu Besuch, mit einer roten Topfgeranie. Ihre Anwesenheit wirkt wie ein frischer Windstoß. Einige Mitbewohner bekommen gar keinen Verwandtenbesuch. „Das ist die Dame von gegenüber, nicht?“, sagt die sehr verwirrte Frau. „Ja, sie sitzt uns gegenüber“, antwortet jemand. „Bisschen schräg“, sagt Frau Lutz mit ihrem Sinn für Wortspiele. Nach einer Weile verlangt die verwirrte Frau mit Nachdruck eine Antwort: „Ich will wissen, wo ich bin!“ Aber da sind Frau Schröder und Frau Lutz bereits auf dem Weg zum Spieltisch.