Im Berliner Soul- und Gospelchor "Different Voices" feuert die bekannte Sängerin Joycelyn B. Smith Obdachlose wie Bürgerliche an. Manche singen seit Jahrzehnten zum ersten Mal wieder
Hedwig Gafga, Autorin
07.10.2010

Zwei Jahre lang hat Elke, 67, im Chor beim Singen nur die Lippen bewegt. "Glaubst du, dass man durch Singen etwas sagen kann, was man mit Worten nicht sagen kann?", hatte Elke die Chorleiterin anfangs gefragt. Die Chorleiterin antwortete: Ja. Deshalb machte Elke weiter. Mittwoch, elf Uhr morgens. In Berlin-Kreuzberg, im Innenhof der Gitschinerstraße 15, des Zentrums für Gesundheit und Kultur gegen Ausgrenzung und Armut, halten die Besucher ihre Gesichter in die Sonne, sie warten auf den Beginn der Chorprobe.

Elke, eine schmale Frau mit knallroten Haaren, sucht den Schatten. "Meine Geschichte mit dem Chor ist eine sehr persönliche", sie spricht schnell, ihre Stimme klingt ein wenig heiser. Seit sie elf war, hatte sie nicht mehr singen können "bis ich mich irgendwann dazugestellt habe". Dazugestellt zu den Sängern und Sängerinnen von Different Voices of Berlin, einem für jeden und jede offenen Chor. Die Soulsängerin Jocelyn B. Smith leitet den Chor, ehrenamtlich. Er gehört zur Gitschinerstraße 15, einem Stadtteilhaus für Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger, Rentner, das von einer evangelischen Kirchengemeinde getragen wird.

Und da steht sie auch schon im Hinterhof: Jocelyn B. Smith, mit Rastazöpfen, gebändigt von einem roten Haarband. Aufrecht und leichtfüßig bewegt sich die schwarze Sängerin zwischen den Besuchern. Vielen legt sie zur Begrüßung kurz ihre Hand auf Arm oder Schulter. Die 28 Leute formieren sich im Musikraum hinter dem Flügel. Aber sie müssen warten. Denn ein Mann, der mit Ohrring und Tätowierungen aussieht wie ein alter Pirat, hat Jocelyn in einen Disput verwickelt - Rolf, der Basssänger, 65 Jahre alt. Er ist auf der Straße und in Kinderheimen groß geworden, später trat er als Sänger auf und malte, schlug sich durch. Vor Wochen hatte ihn die Chorleiterin bei einem Konflikt aus der Probe gewiesen, damit hadert er noch immer.

Endlich, Jocelyn B. Smith gibt das Zeichen zum Einsingen. Die Sänger strecken die Hände nach vorn, kreuzen sie über der Brust und singen "A, E, I, O, U", die Tonleiter herauf und herunter - laut und schräg. Schiefe Töne stören Jocelyn überhaupt nicht. "Oh, no! ", ruft sie, "in den schrägen Tönen spüre ich die Lebenstiefe, da ist die Magie." In diesen Chor kann jeder und jede kommen, auch wer meint, gar nicht singen zu können.

Die Sängerin kam vor 26 Jahren aus New York für eine Tournee nach Deutschland und blieb. Sensibel reagiert die Eingewanderte auf die Schmerzen und Nöte von älteren Deutschen. "Die waren Kinder damals, die haben was erlebt, was gesehen", damals, in der Diktatur, bei Kriegsende, in der Nachkriegszeit. Sie lebt in dem Bewusstsein, "dass alle Menschen das Recht haben, ihr Leben frei zu gestalten". Aber wie kann das ein Mensch lernen, der sich von klein auf den Verhältnissen unterordnen musste? Durch Musik, meint Jocelyn, das ist ihr Heilmittel.

"Yeah, one, two, three", feuert sie die Leute an, nicht laut, aber eindringlich. Sie schlägt die Melodie auf dem Flügel an. Stolz stehen die Männer und Frauen da und singen sich warm. Die ersten Lieder hauen sie nur so heraus, sie schmettern Textzeilen wie: "Wir sind alle Teil dieses Universums" oder: "I've decided to make Jesus my choice." Fast alle können die Texte auswendig. Es sind eben nicht irgendwelche, sondern ihre Lieder.

Hinten links, halb verdeckt, steht Elke. Von ihrer Mutter hat sie erzählt, die hochmusikalisch war und dauernd krank, so dass Elke mit ihren sechs Geschwistern oft allein war. "Wir lagen im Bett, sangen mehrstimmig und weinten", erinnert sie sich. "Gewalterfahrungen" hätten die Kindheit abrupt beendet und das spätere Leben überschattet, ihre eigene Familie und die Berufstätigkeit. Immer habe sie am Rand gestanden. Der Chor führe sie an die schönen Seiten des Lebens heran - auch wenn sie selbst lange keinen Ton herausbrachte. Sie probte trotzdem mit und stand auch bei Chorkonzerten dabei. "Irgendwann war wieder eine Probe: Und ich konnte mitsingen wie die anderen auch."

Jocelyn zählt den Rhythmus vor: "Eins, zwei, drei. Stopp. Zwei, drei, vier." Singen sollen sie, tanzen. "Nicht wie ein Brett in die Mitte gehen, mehr schwingen", ruft die Soulsängerin. "Der Deutsche ist schwergängig", kommt es zurück. "Immer gut aussehen, auch wenn da ein Unfall ist", ruft sie denen zu, die aus dem Rhythmus kommen. Sie erntet Gelächter.

Es sind nicht nur bettelarme Leute dabei, die Chorleute leben in unterschiedlichen Verhältnissen. Die eine trägt ein modisches Longshirt und farblich abgestimmte Pumps, der nächste ein ausgewaschenes T-Shirt und Trainingshosen. Geri, 57, war früher Skilehrer und will sich eine Existenz als Kunsthändler von Alpenbildern aufbauen. Er sagt: "Typisch für unseren Chor: Die Leute sind mal gut drauf, mal depressiv. Es gibt kaum einen, bei dem das Leben gleichmäßig verläuft." Auch Josy, die Chorleiterin, passe dazu: "Mal kommt sie wie eine Mutti mit Schürze, dann als Diva, ausstaffiert wie zum Auftritt."

Ein Lied ist den Sängern von Different Voices besonders wichtig: "Where can I go from your spirit?" ("Wo soll ich hingehen vor deinem Geist?"). Es ist mit Peggys Geschichte verbunden. Chorsängerin Peggy hatte als Kind Krebs, vor zwei Jahren wurde sie erneut schwer krank, sie starb mit 35 Jahren. Lebenslustig sei die junge Frau gewesen, sagen die anderen, immer wieder habe sie dieses Lied verlangt. Der Chor sang es für sie im Krankenhaus und dann auf ihrer Beerdigung. Den Text, der auf Psalm 139 gründet, haben sie mit Jocelyn erarbeitet.

"Heyeyeyey", die Chorleiterin singt die Silben mehrmals hintereinander, mal fragend, dann polternd, zuletzt besänftigend. Dabei legt sie die Hände auf ihren Bauch, zieht den Bauch ruckartig ein, der Körper richtet sich auf. Es wirkt wie ein Signal zum Aufbruch. "Go for it! - Was heißt das auf Deutsch?", will sie wissen, "schnapp diesen Ton?" Jemand ruft: "Häng dich rein! "

Und sie hängen sich rein. Aber es fällt vielen schwer, Körperbewegung und Rhythmus aufeinander abzustimmen. Sie kichern und johlen über ihre Bemühungen. Also sollen sie einander nun wie Opernsänger ansingen. Schon bekommt das "Heyeyeyey" einen deutlichen Klang, hört sich mal wie eine Frage an, mal wie ein Stoppzeichen. Jocelyn springt in die Mitte, beginnt zu trommeln.

Alle zwei Wochen anderthalb Stunden Chor, das ist nicht viel, aber diese Stunden bedeuten den Choristen viel, und jedem etwas anderes. Für Rolf, den Künstler, der im Altersheim lebt, "ist es ein Sprung auf die Bretter", vor Publikum. Die Ostberliner Rentnerin Margarethe, 68, einst "ein braves Mädchen", entdeckt, wie sie sagt, eine gewagte, kreative Seite in sich. Ines, 40, Lehramtsstudentin und Mutter zweier Kinder, galt als unmusikalisches Kind und traut sich nun erstmals zu singen.

"Jeder in diesem Chor hat was zu sagen", findet Jocelyn B. Smith. Sie hat keine Angst vor Nähe, keine Angst, Menschen mit einem schwierigen Leben eng an sich heranzulassen. Aber nicht alle folgen ihr in jede ihrer Übungen. Gerade sollen sie sich einzeln an Jocelyns Rücken lehnen und "Feuer" schreien, so laut sie können. Elke, die erst vor kurzem ihre Singstimmewiedergefunden hat, gehört zu denen, die bei der Übung streiken. Andere werfen sich rein, manche mit Wolfsgeheul oder Alarmgeschrei, andere mit halblauten, verebbenden Rufen.

Schluss für heute! Die Chorleiterin will sich verabschieden, als jemand sagt: "Eckard hat heute Geburtstag, Eckard wird 70." Eckard, der Obdachlose. Er gehört schon lange zum Chor. Im Winter, wenn er in Obdachlosenunterkünften übernachtet, kommt er regelmäßig, im Sommer sporadisch. "Happy birthday", fängt der Chor leise an zu singen, einige beginnen zu klatschen und zu trommeln, Eckard tanzt in der Mitte. Eine Feier zu seinem Geburtstag! Das kostet er aus.

WEITERE INFOS

Internet: www.differentvoices-berlin.de. Das Gitschiner 15, Zentrum für Gesundheit und Kultur gegen Ausgrenzung und Armut, ist eine Einrichtung vor allem für Obdachlose. Die evangelische Kichengemeinde Heilig-Kreuz-Passion in Berlin-Kreuzberg finanziert die Arbeit durch Spenden und betreibt die Einrichtung mit Ehrenamtlichen und Ein-Euro-Jobbern.

Spendenkonto: Kirchenkreis Berlin Stadtmitte, Verwendungszweck: Gitschiner 15. Bank: EDG, BLZ 210 602 37, Konto-Nr. 634 741 280

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