Er predigte in seiner Landessprache und teilte beim Abendmahl nicht nur das Brot, sondern auch den Kelch aus – eine unerhörte Neuerung. Er akzeptierte nur die Autorität der Bibel, nicht die des Papstes. Er kritisierte die Raffgier des Klerus und seine Vorstellungen von der Sündenvergebung. Der Papst forderte ihn per Erlass auf, seine Lehre zu widerrufen. Dann wurde er exkommuniziert. Als man ihm freies Geleit zusicherte, willigte er in eine Anhörung vor König und Papst ein. Eine Falle. Am 6. Juli 1415 – gut ein Jahrhundert, bevor Martin Luther die 95 Thesen schrieb – starb Jan Hus auf dem Scheiterhaufen.
Zahlreiche Neuerer rebellierten im Mittelalter gegen eine moralisch verkommene Kirche. Petrus Waldes, Franz von Assisi, John Wyclif, Jan Hus, Martin Luther und Huldrych Zwingli sind nur einige von ihnen. Sie wollten, dass Priester und Bischöfe den Menschen im Geist der Bibel helfen – statt ihre seelische Not auszubeuten wie zu Luthers Zeiten durch den Verkauf von Ablassbriefen, die angeblich die Strafen für die Sünden verringerten. Sie wollten Kultur und Bildung unter die Leute bringen.
Spezial: was ist Reformation Henning Kiene vom EKD-Kirchenamt erläutert
Nur ein Reformversuch von vielen
Sie hatten keinen Namen für ihr Neuerungswerk, sie wollten lediglich die fehlgelaufene Geschichte korrigieren (lateinisch: corrigere), die Kirche der Frühzeit wiederherstellen (restituere), eine verkrustete Lehre erneuern (renovare) und die kirchlichen Ämter umgestalten (reformare). Im 18. Jahrhundert setzte sich für solche Neuerungsbestrebungen auch im Deutschen der französische Fachbegriff "Réforme" durch. Lediglich die „reformatio“ des 16. Jahrhunderts bekam einen lateinischen Namen – als sei sie mehr als nur ein Reformversuch von vielen.
Das Wort „Reformation“ wurde zum Epochenbegriff. Für Geschichtsschreiber markiert das Zeitalter der Reformation den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. In späteren Jahrhunderten überschüttete man die Reformatoren auch mit Ehrungen. Luther, Zwingli und Calvin feierte man als Kirchenväter, Luther im 19. Jahrhundert gar als deutschen Nationalhelden.
Die Reformation ist nie abgeschlossen. Das gilt bis heute
Dabei lag auch diesen Kirchenreformern nichts ferner, als neue Bekenntnisse oder gar eine nationale Kirche zu schaffen. Sie wollten wie die ersten Christen wieder über das predigen, was in der Bibel steht. Sie wollten Menschen durch Bildung kultivieren. In der Messe sollte sich eine geläuterte Gemeinde wieder um den Tisch des Herrn versammeln. Taufe und Abendmahl sollten wieder Symbole des Zuspruchs sein. Die Reformatoren wollten keine neue Kirche, sie wollten die Christenheit an ihre Ursprünge erinnern.
Noch anderthalb Jahrhunderte später befand der pietistische Prediger Philipp Jakob Spener, die Reformation sei nicht abgeschlossen. Er forderte seine Zeitgenossen auf, sich nicht mit frommen Worten zu begnügen. Wahre Gottesfurcht zeige sich in praktizierter Nächstenliebe. Die Reformation sei nie abgeschlossen, sagte ebenfalls – Mitte des 20. Jahrhunderts – der für den Widerstand gegen die NS-Ideologie so wichtige evangelische Theologe Karl Barth. Die Kirche müsse sich ständig selbst erneuern und neuen Herausforderungen stellen.
"Einheit in Verschiedenheit" heißt: Miteinander, nicht gegeneinander arbeiten
Zum problematischen Erbe der Reformation zählt die Zersplitterung der Christenheit in viele Konfessionen. Eskaliert ein Streit, neigen Protestanten dazu, eine eigene Kirche aufzumachen. Dabei hatten sich die Christen der Frühzeit stets um organisatorische Geschlossenheit bemüht – auch wenn es zu keiner Zeit eine einzige weltweite Kirche gegeben hat.
Protestanten und Katholiken haben gelernt, offen und friedlich um den richtigen Weg zu streiten. „Einheit in Verschiedenheit“ lautet die Devise heute: Christen mögen verschiedene Bräuche haben und auch unterschiedlichen Organisationen angehören. Aber sie müssen sich gegenseitig respektieren und möglichst viel miteinander statt gegeneinander arbeiten.
Eine Kirche, die sich auf den Gott der Liebe beruft, braucht immer wieder frischen Wind. Es sollte aber niemand meinen, dass jede Reform auch eine Besserung sei. Gerade die Reformer des 16. Jahrhunderts waren in dieser Hinsicht sehr pessimistisch. Egal was Menschen tun, nie habe ihr Werk vor Gott Bestand, lehrten sie. Der Mensch sei ganz auf Gottes Gnade angewiesen. In ihrem Reformeifer ließen sie sich davon allerdings nicht bremsen.