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In "Almanya" können sich Zuschauer in die Situation der Türken hineinversetzt. Was wollen Sie damit bewirken?
Yasemin Samdereli: Meine Schwester Nesrin, die Co-Regisseurin, und ich wollen die türkische Perspektive aufzeigen. Wie es zum Beispiel ist, wenn man in ein fremdes Land kommt und nur Kauderwelsch versteht. Sich über Hunde an der Leine wundert oder zum ersten Mal eine Sitztoilette benutzen muss. Ich habe mich gefreut als viele zu mir sagten, der Film sei einfach ein Familienfilm. Familie funktioniert eigentlich überall auf der Welt gleich. Da ist es nicht so wichtig, ob es Türken oder Deutsche sind.
Was könnte denn Thilo Sarrazin von Ihrem Film lernen?
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass alle über diesen Film lachen können nur Thilo Sarrazin nicht. Er stellt so aggressive Behauptungen wie genetische Dummheit bei Muslimen auf, dass ihm nicht mehr zu helfen ist. Sarrazin würde wahrscheinlich gar nichts lernen und den Film damit abtun, dass er ja nicht der Realität entspreche. Aber was ist denn seine Realität? Ich glaube er hat lauter Goethe und Schiller zitierende Deutsche vor Augen, die es nicht gibt.
Eine Komödie wie „Almanya“ gaukelt eine Leichtigkeit vor, die ja so auch nicht der Realität entspricht.
Ich habe von türkischer Seite oft gehört, „Danke, dass Sie mal einen Film gemacht haben, der mehr unserer Realität entspricht.“ Denn die dramatischen Stoffe, die in der Tradition des deutsch-türkischen Kinos stehen, haben ein negatives Bild verstärkt. Uns schockiert ein Ehrenmord genau so sehr wie andere Kulturen auch. Natürlich muss es auch Filme darüber geben. Auffällig ist aber, dass man in Deutschland viel leichter an Gelder für einen Film über Ehrenmord kommt als für einen Film wie wir ihn gemacht haben. Die problematischen Themen werden gern Regisseuren mit Migrationshintergrund zugeschoben. Andersherum muss ein deutscher Regisseur doch auch nicht einen Film über Kindesmissbrauch drehen.
In Ihrem Film geht es um die Frage nach Identität: Bin ich Deutsch oder Türkisch? Haben Sie für sich eine Antwort gefunden?
Als Kind und Jugendliche habe ich mich oft gefragt: Wer bin ich denn jetzt? Mit dem Älterwerden kam die Erkenntnis: Ich bin beides, Deutsch-Türkin, und das ist auch okay. Deutschland ist meine Heimat aber meine Wurzeln reichen weiter bis nach Anatolien.
Was bedeutet es für Sie, sich deutsch zu fühlen?
Deutsch-Sein bedeutet heute sicherlich etwas Komplexeres als noch vor 30 Jahren. Ich denke auch viele junge Deutsche können das nicht mehr so gut definieren, wie ihre Eltern oder Großeltern. Deutschland ist heute eher ein facettenreiches Mosaik mit vielen unterschiedlichen Lebensstilen und Kulturen. Ich sehe das als Bereicherung und viele Deutsche sehen das wahrscheinlich ähnlich. Es gibt immer Leute, die das vereinfachen wollen und festlegen, wer deutsch ist. Das geht aber nicht so leicht: Ist deutsch wer blond ist, wer hier geboren ist oder vielleicht der tschechische Deutsch-Professor, der mehr über deutsche Literatur weiß als die meisten Deutschen?
Haben Sie als Künstlerin überhaupt noch einen Bezug zur Lebenswelt von türkischen Durchschnittsfamilien in Deutschland?
Ja klar, ich lebe in Berlin-Neukölln! Ich habe auch eine Beziehung durch meine Familie in Dortmund. Mich fasziniert der Mensch an sich in all’ seinen Facetten. Zum Beispiel meine Großmutter. Ich sah in ihr eine sehr mutige, witzige und eloquente Frau. Das konnten meine Freundinnen, die nicht Türkisch können, natürlich nicht nachvollziehen. Sie sahen immer nur eine Frau, die sagte „Trinken, mehr Trinken“, die Tee nachgoss oder Kekse brachte und kaum kommunizieren konnte. Dasselbe passiert, wenn man sich in ein Taxi setzt und der Fahrer gebrochenes Deutsch spricht. Sofort geht man davon aus, dass das sein Geisteszustand sei. Das ist fatal.
Warum können Leute wie ihre Großmutter kaum Deutsch, obwohl sie seit Jahrzehnten in Deutschland leben?
Mich ärgert, dass das der ersten Generation vorgehalten wird. Mein Großvater zum Beispiel kam in den 60er Jahren nach Deutschland. Bis zu seiner Rente hat er hier gearbeitet. Aber er hatte kaum Zeit und Möglichkeiten die Sprache vernünftig zu lernen. Die Behörden berücksichtigen nicht, WER da vor ihnen sitzt. Einen Menschen, der höchstens die Grundschule besucht hat, kann man nicht nach dem Prädikat eines Satzes fragen. Natürlich müssen die Einwanderer und ihre Nachkommen sich anstrengen. Aber das es wirklich schwierig für sie ist, wird oft nicht gesehen.
Wann wird es keine Rolle mehr spielen, ob Menschen einen Migrationshintergrund haben?
Wenn ich jemanden treffe ist die erste Frage häufig: „Woher kommen Sie denn?“ Wenn ich „aus Dortmund“ antworte, muss ich mir anhören. „Sie wissen schon wie ich das meine.“ Das ist so ein Abchecken. Dass die Leute sich aufgrund meines Aussehens für meine Geschichte interessieren ist normal. Sie meinen es ja überhaupt nicht böse, aber man sollte sich erstmal über anderes unterhalten. Denn so unterschiedlich sind wir alle ja gar nicht. Gerade der jüngeren Generation mit Migrationshintergrund sollte vermittelt werden, dass sie dazu gehört. Viele Probleme, die es definitiv gibt, haben soziale und keine kulturellen Hintergründe.
Wieviel von Ihrem eigenen Leben steckt in „Almanya“?
Die Perspektive in dem Film ist wirklich so, wie meine Schwester und ich das erlebt haben. Unser erstes Weihnachtsfest war genau so katastrophal. Die Geschenke waren nicht eingepackt und der Baum war aus Plastik. Wenn wir unseren deutschen Freunden und Bekannten solche Anekdoten erzählt haben, mussten viele lachen. Also, warum nicht einfach miteinander übereinander lachen.