Fabien Didier Yene erzählt, wie der durch die afrikanische Wüste nach Europa floh
23.09.2011

Irrfahrt durch die algerische Wüste

Viele erinnern sich noch an die schrecklichen Szenen am Zaun von Mellila im Oktober 2005: Unzählige Afrikaner versuchen in Kleingruppen und mit selbst gebauten Leitern, die scharf bewachte, sechs Meter hohe Grenzbarriere zwischen Marokko und der spanischen Enklave zu überwinden. Hinter sich marokkanische Soldaten, vor sich schwer bewaffnete spanische Zivilgardisten, die sie am Betreten der „Festung Europa“ zu hindern versuchen. Die spanischen und die marokkanischen Militärs sind nicht zimperlich, schrecken vor Gewalttaten nicht zurück. Über Wochen und Monate gibt es am Drahtzaun Tote und Verletzte. Die Europäische Union (EU) reagierte umgehend und erhöhte das Budget der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Deren Aufgabe besteht unter anderem darin, Flüchtlinge systematisch am Eintritt nach Europa zu hindern. Todesfälle und Menschenrechtsverletzungen werden dabei anscheinend in Kauf genommen.

Die Flüchtlinge aus den Ländern südlich der Sahara haben Tausende von Kilometern zurückgelegt, mehrere Staaten und die Wüste durchquert und dabei die Hölle auf Erden erlebt. Sie werden Opfer von Schlepperbanden und skrupellosen Ausbeutern, die den Flüchtlingen die letzten Ersparnisse aus der Tasche ziehen. Fabien Didier Yene war einer von ihnen. Yene kommt aus Kamerun, seine Odyssee durch die algerische Wüste hat er in der fesselnden, nervenaufreibenden Chronik „Bis an die Grenzen“ festgehalten. Er erzählt von seiner Kindheit und Jugend in einem kamerunischen Dorf, schildert die Gründe für seinen Aufbruch, berichtet von den Erlebnissen anderer Reisender, denen er unterwegs begegnet, von der Solidarität unter Schicksalsgenossen, vom geteilten Leid und gemeinsamen Anstrengungen, Widrigkeiten zu überwinden.

Warum begeben sich die Menschen, die in der europäischen Presse gerne als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet werden, auf den gefährlichen Weg? Was bewegt sie, Heimat, Familie und soziales Umfeld aufzugeben? Außer Kriegen, Despotie und Willkür gibt es den starken Wunsch nach neuen persönlichen Perspektiven, nach Bildung, Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Partizipation. Das gilt auch für Yene, der sein Bedürfnis nach einer guten Ausbildung nicht verwirklichen kann und dessen Entschluss, die Frau zu heiraten, die er liebt, weder von der Familie noch im Dorf akzeptiert wird. Nach einem Verkehrsunfall gerät er außerdem in Konflikt mit den Behörden. Über den Tschad, Nigeria, Niger und Algerien bricht er Richtung Europa auf, um schließlich in Marokko zu stranden. Mehrmals scheitert er am Zaun von Melilla. Heute lebt Yene in Rabat, wo er zum Obmann der kamerunischen Migrantinnen und Migranten gewählt wurde und sich in Menschenrechtsorganisationen für das Recht von Flüchtlingen auf Bewegungsfreiheit einsetzt.
Mit Yene schildert erstmals ein Afrikaner die Motivation für seinen Aufbruch und die Irrfahrt durch die Wüste. Ein Migrant zeichnet den selbst erlebten Exodus auf. Yene wird nicht nur zum Chronisten seines eigenen Schicksals, sein Bericht weist alle Elemente einer kollektiven Leidensgeschichte auf. Er legt Zeugnis ab von der afrikanischen Migration nach Norden und setzt ihr ein literarisches Denkmal.

 

Fabien Didier Yene, Bis an die Grenzen. Chronik einer Migration, Drava Verlag, Klagenfurt 2011, 222 Seiten, 19,80 Euro.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.