Manche Texte wirken Jahrzehnte nach. Der Essay "Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod" des österreichischen Schriftstellers Jean Améry aus dem Jahr 1976 ist ein solcher Text. Améry beschreibt darin die Möglichkeit zum Suizid als größte Freiheit des Menschen, als ein Privileg, das ihn vor allen anderen Geschöpfen auszeichnet. Er lehnt es deshalb glatt ab, dass Religion und Gesellschaft den Suizid mit einem Verbot belegen.
Eduard Kopp
Das sind Gedanken auf höchstem philosophischem Niveau, die prompt die Kritik von Theologen und Psychologen hervorriefen. Die Realität, so ihre Erfahrung, ist einfacher, oft brutaler. Sie sehen den Suizid als Schlusspunkt einer langen Kette von "Selbsteinengungen", das tragische Ende einer Entwicklung. Eben nicht oder nicht immer ein Akt souveräner Selbstbestimmung, sondern oft ein Zeichen persönlicher Unfreiheit.
Psychologen sprechen von einem Präsuizidalen Syndrom, zu dem der Verlust an menschlichen Bindungen gehört, zudem wachsende Aggressionen gegen sich selbst, Panik, Verzweiflung. Selbstmordgefährdete sind einsam, nicht unbedingt äußerlich isoliert, aber auf jeden Fall innerlich. Und sie sind zunehmend außerstande, Alternativen zu diesem letzten Schritt zu denken. Auch Menschen, die einen vermeintlich rationalen "Bilanzselbstmord" begehen ("Ich bin gescheitert"), sind emotional stark eingeengt, handeln gerade nicht nüchtern-sachlich.
Das Tötungsverbot in den Zehn Geboten hilft nur mäßig weiter
Ist "Selbstmord" verboten? Das deutsche Strafrecht trifft dazu keine Aussage. Polizeibeamte, die zu einem Einsatz gerufen werden, können sich allenfalls auf die Generalklausel ihres Polizeigesetzes berufen, nach dem sie für den Erhalt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig sind, und mancher Suizid bringt zweifellos die Ordnung durcheinander. Das Leben, das nach Artikel 2 des Grundgesetzes ein hohes Rechtsgut ist, lässt sich von Staats wegen schwer schützen, wenn es dem Betroffenen selbst als verloren gilt.
Juden und Christen plädieren eindeutig für den Erhalt des Lebens, verbunden mit einer umfangreichen Unterstützung für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld. Ein Recht auf Selbsttötung lehnen sie strikt ab: Es widerspricht der grundsätzlichen Auffassung, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist. Und außerdem: Ist ein solches Recht erst einmal eingeführt, würde es jede soziale Pflicht zum Schutz des Lebens unterlaufen. Im Endergebnis brächte es mehr Unmenschlichkeit hervor. Die theologische Ethik lehnt deshalb auch die direkte, aktive Sterbehilfe ab.
Das Tötungsverbot in den Zehn Geboten hilft nur mäßig weiter in der Frage, ob es erlaubt ist, sich selbst zu töten. Das fünfte Gebot bezieht sich ursprünglich auf hinterlistigen Mord, genauer gesagt: auf den Mord an einem Volksgenossen. Allerdings zeigt dieses Gebot, dass die jüdisch-christliche Ethik dem Schutz des Lebens einen hohen Stellenwert beimisst.
Der religionslose Mensch muss lernen, Leiden nicht auszublenden
Lange Jahrhunderte versagten die Kirchen Menschen, die sich selbst getötet hatten, eine christliche Beerdigung. Einer, der mit dieser Tradition brach, war der Reformator Martin Luther. Er begrub eigenhändig einen Jungen, der sich das Leben genommen hatte, so zeigt es der Film "Luther" von Eric Till eindrücklich. Angesichts der Verzweiflung der Menschen, die in den Tod gingen, verzichten heute die Kirchen darauf, sie moralisch zu verurteilen. Jedoch kritisieren die Kirchen hart alle, die Selbsttötung erleichtern wollen, schon gar dann, wenn sie damit Geld verdienen. Die angemessene Reaktion von Christen auf eine drohende Selbsttötung: dem Betroffenen so viel Nähe zu schenken, wie er zuzulassen vermag, und nicht aufzuhören, ihn zu lieben. Auch den Angehörigen, die durch die Tat in ein schreckliches ethisches Dilemma geraten, gilt es beizustehen.
"Wie werde ich damit fertig, dass ich hilflos bin?" Mit diesem Problem, so schreibt Fernsehpastor Jürgen Fliege, sei der moderne religionslose Mensch überfordert. Er muss lernen, Zumutungen zu akzeptieren, Leiden nicht auszublenden: "Wir brauchen die Ermutigung aus Religion und Spiritualität, um diese Veränderung zu wagen, so dass wir am Ende dieses Lebens, mit siebzig, achtzig, neunzig Jahren, angesichts unseres nahenden Todes den Schöpfer loben und sagen können: 'Es war ein abenteuerliches Leben. Es war meines. Ich bin glücklich. Ich bin dankbar.'"
Die Kirche kann und wird niemandem die Verantwortung für einen verzweifelten Schritt in den Tod abnehmen. Sie hat eine andere Rolle: Menschen zu trösten.