Und natürlich ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen
Lena Uphoff
15.11.2010

Wenn man muss, geht alles. Ich habe irgendwann aufgehört, die banale Logik des Pragmatismus zu verachten. Ich habe die heilsame Wirkung der praktischen Vernunft im Dickicht der Grundsätze und Lehrmeinungen schätzen gelernt. Sie wirkt wie eine Machete im Dschungel.

Die Erben von Alexender dem Großen traf ich auf dem Klo einer Autobahnraststätte

Alexander der Große hat es vorgemacht, als er den gordischen Knoten einfach mit dem Schwert durchschlug, nachdem eine lange Reihe der weisesten und klügsten Menschen an dessen Lösung gescheitert war. Sie hatten einfach zu kompliziert gedacht und gehandelt und vor sich ein Gebirge an Regeln aufgebaut, anstatt dem gesunden Menschenverstand eine Chance zu geben.

Alexanders Erben traf ich auf einem Fußballplatz und auf dem Klo einer Autobahnraststätte bei Lyon.

Ein Fußballturnier in Sulzbach bei Frankfurt am Main. Hundert jugendliche Kicker, Jungs zwischen zehn und zwölf, messen einen ganzen Tag lang ihre Kräfte. Der gastgebende Club verkauft Süßigkeiten, Getränke und Grillwürste. Und die kleinen Kerle stehen um die Mittagszeit in langen Schlangen vor den Ständen. Auch Mehmet und Suleiman aus dem Team meines Sohnes holen sich leckere Bratwürste. Mit vollen Backen kauen sie, schnattern laut mit Gegnern und Kameraden.

"Warum esst ihr die Würste?" - "Weil sie schmecken und wir Hunger haben."

Zwei Väter gesellen sich zu den Buben, die am Rand des Spielfelds hocken. "Du, Suleiman", fragt einer von ihnen, "was isst du da?" Das Gesicht des dunkelhaarigen Steppkes signalisiert: blöde Frage. "Na, Bratwurst, siehste doch", antwortet er. Und Mehmet: "Schmeckt gut." Der Mann lässt nicht locker: "Du weißt, dass die aus Schweinefleisch sind?" - "Hmm." - "Ihr seid doch Muslime."

- "Klar." - "Warum esst ihr dann die Würste?" - "Weil sie schmecken und weil wir Hunger haben." Die Burschen grinsen. Der Mann guckt ein wenig ratlos herum, dann entfernt er sich.

Ein paar Tage später fahren wir auf der Autoroute du Soleil Richtung Mittelmeer. Es ist heiß und wir haben Durst. Wir steuern die nächste Raststätte an. Die ist völlig überfüllt. Auch vor den Klos herrscht der Ausnahmezustand. Vor der Damentoilette liegt die Wartezeit bei einer guten Viertelstunde. Die Männer haben es leichter. Ich gehe an den wartenden Frauen vorbei und öffne die Tür zum Männerklo. Vor der langen Rinne des Pissoirs stoße ich auf ein halbes Dutzend junger Mädchen. Zwei der Girlies tragen das Kopftuch der Musliminnen zu Jeans und T-Shirt. Sie müssen nur kurz hier aushalten. Unter den irritierten Blicken diverser Männer verschwinden sie fröhlich gackernd in den WC-Kabinen. Wenn man muss, geht vielleicht nicht alles, aber mehr, als man glaubt.

Muss man den Kopftuchstreit und diverse andere Debatten über muslimische Parallelkulturen nicht häufiger an der Alltagswirklichkeit messen? Man muss nicht. Aber man könnte. Man kann aber auch einfach nur erleichtert durchatmen, indem man eine andere Alltagserfahrung zu Hilfe nimmt: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es auf den Tisch kommt. Auch Bratwürste nicht.

Auf die ansteckende Kraft des alltäglichen Miteinanders vertrauen

Und man könnte begreifen, dass es sich lohnt, auf die prägende, auf die ansteckende Kraft des alltäglichen Miteinanders zu vertrauen. Damit hat nämlich auch die Ökumene zwischen den christlichen Konfessionen hierzulande mal angefangen.

Kann sich noch jemand daran erinnern, wie streng die Bräuche unter Christen waren? Es ist noch nicht so lange her, da wurden katholische Mädchen aus der Kirche gepredigt, weil sie mit evangelischen Burschen schnackselten. Und die Evangelischen putzten Fronleichnam provokant ihre Autos, während die Prozession vorüberzog. Es gab Schulen mit Zäunen quer über den Schulhof, die katholische und evangelische Schülerinnen trennten.

Aufgelöst haben diese Grenzen nicht die weisen Lehrer, sondern die Grenzgänger des Alltags. Die mächtigen Regelhüter mussten irgendwann über große und kleine Fehltritte hinwegsehen, weil es einfach zu viele geworden waren. Und Provokationen verpufften, weil sie nicht mehr als solche verstanden wurden. Die kleinen pragmatischen Regelverstöße legen die große Regel des Jesus von Nazareth frei: Der Mensch ist die Maßeinheit Gottes. Natürlich ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen.

Hunger treibt Bratwürste rein. Notdurft macht mutig. Alexander hätte seine Freude an solchen Nachfahren. Und der Wanderrabbiner aus Nazareth erst recht.

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