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Diese Woche war ich im Jüdischen Neujahrskonzert, das jedes Jahr wieder im altehrwürdigen Prinzregententheater in München mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich stattfindet. Die Karten hatten mein Freund und ich schon vor etlichen Wochen besorgt, als die Lage vor Ort in Israel eine andere war. Vor nun mehr zwölf Tagen fand der Angriff der Hamas auf Israel statt, an einem Schabbat, einem Tag, an dem Jüdinnen und Juden ruhen. Die Menschen auf beiden Seiten erfahren unfassbares Leid, die Zahl der Opfer steigt stetig an. Weltpolitisch steht viel auf dem Spiel, ein von vielen erhoffter Frieden hingegen in weiter Ferne.
Ich hatte einige Tage vor dem Konzert ein leicht mulmiges Gefühl, hatte ich doch damit gerechnet, dass es aufgrund der Situation abgesagt werden würde. Auch als wir in dem übervollen Saal Platz nahmen und das erste Stück gespielt wurde, verließ mich dieses Gefühl nicht. Kann man das Neujahrsfest mit fröhlichen Stücken in so festlicher Atmosphäre feiern, während ein Krieg in Israel wütet? Ja, gerade jetzt, meinte der Dirigent Daniel Grossmann zum Konzertbeginn. Starke Worte in einer Zeit, in der man eigentlich verzweifeln kann. Die beiden eigens aus Israel angereisten Kantoren sangen aus voller Kehle.
Ich finde es bewundernswert, dass viele Jüdinnen und Juden trotz aller Versuche in der Geschichte, jüdisches Leben auszulöschen, das Leben immer wieder feiern. Wie viel Kraft, wie viel Glaube, wie viel Mut braucht es, so nach vorne zu blicken.
In einem Monat wird auch die Beerdigung meines Vaters genau ein Jahr zurückliegen, ein Gedanke, der mir in dem Konzert kam. Gleichzeitig wird mein Opa in weniger als einer Woche 95 Jahre alt. Freude und Leid liegen oft eng beieinander. Wir Menschen sind nicht vor plötzlichen Umbrüchen, vor tiefen Einschnitten in unserem Leben verschont.
Mir ist sehr bewusst, wie zerbrechlich und vergänglich das Leben ist.
So sehr mich der unerwartete und zu frühe Tod meines Vaters immer noch schmerzt und beschäftigt, so sehr erfüllt es mich mit tiefer Freude, dass wir nächste Woche in der Familie fast ein ganzes Jahrhundert Geburtstag feiern dürfen. Ein großes Geschenk, das nicht jedem beschert wird. Mein Opa spricht als Pfarrer in Ruhe immer wieder von Gottes Gnade, von seinem Willen, dass er heute noch da sein darf. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass er sein Leben gelebt hat, wenn Gott ihn von dieser Erde abberuft, dann soll es so sein, betont er immer wieder. Auch die Sehnsucht nach seiner vor mehr als zehn Jahren verstorbenen Frau ist groß. Schon den 90. Geburtstag feierten wir als Familie in dem Wissen, dass es einer der letzten Geburtstage sein könnte.
Zeit also, zurückzublicken.
Mein Opa spielt eine sehr große Rolle in meinem Leben. Da meine Familie nicht weit entfernt wohnte, waren mein Bruder und ich häufig bei meinen Großeltern - nicht nur zum Lateinbüffeln und Unkrautjäten im Garten, sondern auch wegen den leckeren Schnitzeln und dem Grießkuchen, die meine Oma oft zubereitete. Mein Opa legte sich nach dem Essen immer für ein Mittagsschläfchen auf das alte Sofa in seinem Amtszimmer. Wir waren als Kinder dann mucksmäuschenstill, um ihn nicht aufzuwecken. Wenn wir am Wochenende übernachtet haben, dann gab es immer ein Morgen- und Abendgebet, bei dem wir nicht weniger still waren. Und es ertönte täglich Klaviermusik, meist Bach aus uralten, teils geklebten Notenpartituren, die auch heute noch links neben dem Klavier gestapelt sind.
Heute ist die Musik etwas weniger geworden, mein Opa kann durch eine fortschreitende Augenkrankheit die Noten nicht mehr so klar erkennen. Das ärgert und schmerzt ihn sehr. Die vergrößernde Lupe, die ihm mein Onkel beschafft hat, nimmt er nur ungern zur Hilfe. Dafür durchforstet er jeden Tag seine gewissenhaft geführten Amtskalender von mehr als 60 Jahren, die in einem Rollschrank lagern. Er möchte alles Geschriebene aus seinem Leben, alle Dokumente durcharbeiten und sortieren. Auch für die Zeit, wenn er nicht mehr ist. Als Erleichterung für uns als Familie. Einige Bewegungsübungen im Wohnzimmer dürfen auch nicht fehlen, mein Opa versucht eine Struktur im Alltag aufrechtzuerhalten.
Geboren wurde er im Erzgebirge noch in der Weimarer Republik, ein Jahr vor der Weltwirtschaftskrise. Geschwister hat er keine. Als heranwachsender Junge erlebte er den Nationalsozialismus, die Erzählung seines Onkels, der schon in den ersten Kriegsjahren sagte, der Krieg sei verloren. Eingezogen wurde mein Opa nicht mehr, ein Wunder, wenn man bedenkt, dass die NS-Führung viele Jugendliche bei Kriegsende an die Front und damit fast gewiss in den Tod schickte.
Sein Vater starb an einem auszerrenden Magengeschwür kurz nach dem Krieg, als er gerade einmal 20 Jahre alt war und an der Oberschule nach kriegsbedingter Verzögerung sein Abitur ablegte. Seine Mutter betrieb einen Kaufmannsladen, wo sich neben Mehlsäcken und Salz auch Bonbons in Gläsern fanden, die meine Mutter als kleines Mädchen gerne naschte.
Das Theologiestudium in Leipzig begann mein Opa Anfang der 50er Jahre schon mitten im Sozialismus der DDR. Damals fuhr er am Wochenende mit der Dampflok nach Hause, um seine Mutter zu besuchen. Meine Uroma lebte bis zu ihrem Tod mit über 90 sehr bescheiden und fast schon dürftig in einem Zimmer im Haus meiner Großeltern, wo sie neben einem Waschbecken und einem Sofa noch einen kleinen Ofen und ihre Gitarre hatte. Zufrieden und fröhlich sei sie gewesen, eine zierliche Person. Ich habe sie nie kennengelernt, sie starb vor meiner Geburt. Mein Opa hat das Zimmer, wo sie gewohnt hat, erst vor einigen Jahren ausgeräumt. So lange hielt er daran fest. Seine Eltern bedeuteten meinem Opa viel.
Heute schätze ich die strenge und doch liebevolle Art meines Opas mehr denn je. Auch in seiner zeitlebens eher dominanten und bestimmenden Art ist er milder geworden, für einige Dinge fehlt ihm die Wahrnehmung. Sein Humor und ein tiefer Glaube hingegen sind immer noch da. Zeit also, bei der Geburtstagsfeier einige DDR-Witze über Ulbricht und Honecker zum Besten zu geben. Die erzählt er nämlich oft am liebsten, mit fester Stimme und einem ansteckendem Lachen. Das Leben muss einfach gefeiert werden. Trotz oder gerade wegen aller Widrigkeiten.