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Gerade habe ich den Roman „A History of Loneliness“ des irischen Schriftstellers John Boyne gelesen. Er ist 2014 erschienen (auf Deutsch 2017). Ich hatte ihn damals übersehen. Jetzt hat ein Freund mich auf ihn aufmerksam gemacht.
Boyne kennt man von seinem Bestseller „Der Junge im gestreiften Pyjama“. Ich hatte diese „Fabel“ nicht gelesen, weil ich die Grundidee – der Sohn eines KZ-Leiters schließt Freundschaft mit einem gleichaltrigen KZ-Insassen – abseitig fand. Doch es gibt anscheinend einen globalen Bedarf an erbaulichen Shoah-Geschichten. Boynes Geschichte der Einsamkeit sollte ich aber lesen, empfahl mir der Freund, als wir miteinander über kirchliche Prävention und Aufarbeitung sprachen.
Ein wichtiges Zeugnis der Geschichte Irlands
Dieser Roman gibt eine Ahnung davon, was für eine epochale Veränderung die Aufarbeitung von klerikaler Pädokriminalität in Irland bewirkt hat. Das erzählende Ich ist ein älterer, freundlich-harmloser Priester. Er führt einen durch sein Leben: die unglückliche Kindheit, die Berufung zur Priesterschaft, die Zeit im Seminar, in Rom, an einer Schule und in einer Gemeinde. Eine gewöhnliche Priester-Biografie – wäre da nicht die Aufdeckung massiver Verbrechen und ihrer systematischen Vertuschung. Sie zerbricht dieses Leben in zwei Teile: vorher wurden Priester wie Halbgötter verehrt, nachher trauen sie sich nicht mehr mit Collarhemd auf die Straße. Irland ist ein anderes Land geworden, hat sich von einer nationalkatholischen Theokratie in eine europäische Demokratie verwandelt. Dennoch nimmt man beim Lesen mit einem Sympathiegefühl Anteil am Ergehen dieses Priesters, obwohl man nicht nachzuvollziehen vermag, wie er all die Jahre so gar nichts mitbekommen haben will. Der Roman hat Schwächen. Er ist zu sehr auf Unterhaltung gepolt, analytisch schwach, an einigen Stellen dann doch zu harmonistisch, gibt den Betroffenen nicht ausreichend Raum – und ist trotzdem ein wichtiges Zeugnis der irischen Neuorientierung.
Als ich diesen Roman las, erinnerte ich mich an einen ganz anderen, journalistischen Text. Eine Kollegin hatte ihn mir vor wenigen Monaten gemailt (sie hatte ihn in ihrem Gemeindearchiv gefunden). Es ist der Zeitungsartikel, der oben im Bild zu sehen ist. Er erzählt keine Geschichte aus einem fremden Land, sondern aus einer Kirchengemeinde, für die ich einmal zuständig war. Sie stammt aus einer entfernten Zeit, scheint mir aber typisch zu sein für einen Großteil der „Fälle“, mit denen wir es in der evangelischen Kirche zu tun haben. Vor allem zeigt sie, wie verstörend solch eine massive Grenzverletzung ist. (Dass der Täter hier bestraft wurde, soll natürlich kein Beleg dafür sein, dass die evangelische Kirche immer besser reagiert hat als die katholische.)Klare Berichterstattung, aber die Autorin tat sich schwer
Ich habe die Namen geschwärzt, weil ich Rücksicht auf Nachfahren nehmen wollte.
Das Hamburger Abendblatt berichtet also am 23. September 1955 von der Verurteilung eines 55jährigen Pastors wegen „tätlicher Beleidigung“ zu sechs Monaten auf Bewährung. Er war eng vertraut mit dem örtlichen Bestatter und dessen Tochter gewesen. Er kannte sie seit ihrem zweiten Lebensjahr und hatte sie konfirmiert. Ein halbes Jahr später begannen sie, sich häufiger zu sehen. Er scheint ein Vertrauensverhältnis aufgebaut zu haben. Im März 1955 musste die Ehefrau des Pastors ins Krankenhaus, und er nutzte dies aus, um die inzwischen 15jährige, die von ihren Eltern nicht die nötige Zuwendung erhielt, zu sich ins Pastorat zu führen. Da sich nicht gerichtsfest rekonstruieren ließ, was er dort genau getan hat, wurde er nicht wegen Vergewaltigung verurteilt. Fürs Leben bestraft wurde er doch. Zwei Suizidversuche scheiterten. Beim zweiten verwundete er sich schwer. Die Landeskirche versetzte ihn in den vorzeitigen Ruhestand und leitete ein Disziplinarverfahren ein.
Bemerkenswert fand ich die klare Berichterstattung. Auffällig ist aber auch, wie schwer die Journalistin sich tat – und nicht nur sie –, das Geschehene zu verstehen. In ihrer Verlegenheit brachte sie am Ende ein Bismarck-Zitat, in dem dieser über seine „brutale Sinnlichkeit“ sinniert, als ob das etwas erklären würde. Heute weiß man mehr über missbräuchliche Beziehungen, wie sie angebahnt werden, welche Dynamiken sie haben, welchen Zielen sie dienen, wie sehr sie beschädigen können. Aber vielleicht ist es ganz gut, die Verstörung, die dieser alte Artikel ausstrahlt, auch heute noch auf sich wirken zu lassen.
P.S 1: Über das „Weniger werden“ der evangelischen Kirche spreche ich mit Olaf Zimmermann, oberster deutscher „Kulturlobbyist“ und streitbarer Protestant in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“.
PS 2: Der "Kulturbeutel" macht jetzt Urlaub und ist am 22.9. wieder da.